Das Wagnis mit dem Fremden — Berührung, Körperlichkeit und die Tangomanie

Aufgespannt zwischen Angst und Neugier als zwei Triebkräfte des Lebens erwägen wir, wie viel Risiko wir eingehen und mit welchen Konsequenzen wir leben wollen. Im Theaterspiel gibt es Übungen, die die Spielenden in Wagnisse stürzen, die im geschützten Raum nur ein Schein-Risiko darstellen. Schein-Risiko meint hier, dass man natürlich weiß, dass man nicht blind ist, wenn die Regel ist, die Augen zu schließen, um für die nächste Übung blind zu sein. Die Erfahrungen daraus sind jedoch echt. Das bedeutet, dass ich tatsächlich in Stress gerate, weil ich ein Geräusch nicht zuordnen kann, dass ich mich schutzlos ausgeliefert fühle, weil ich nicht fliehen kann wie ein Sehender oder eine Sehende. Diese Erfahrungen oder diese Empfindungen kann ich mir bewusst machen, damit mache ich sie mir eigen. In der Regel sind sich die Mitglieder einer Theatergruppe bekannt, wenn eine Übung wie „blindes Huhn“1 angeleitet wird, ist das eine Herausforderung und kann als Grenzerfahrung gewertet werden, doch eine solche Übung wie zum Beispiel „blindes Huhn“ würde ein guter Spielleiter nicht zu Beginn einer neuen Gruppe anleiten. Wir haben bei einer Theatergruppe ein Mikrokosmos, der zwar nach den gesellschaftlichen Regeln funktioniert, doch innerhalb dieser Welt auch eigene Regeln aufstellen kann, die eine größere emotionale und körperliche Nähe zulässt, als das sonst üblich ist. Unser Wagnis ist damit nicht so hoch.

Anders sieht das aus, wenn wir uns einem Risiko aussetzen, der in der realen Welt spielt. Das Wagnis ist größer, wenn ich auf einer Tanzveranstaltung mich dem Fremden aussetze, denn ich riskiere damit auch immer gleich eine gesellschaftliche Verwundung. Ist diese Wunde so groß? In unserer Welt könnte man denken, ist das eigentlich nicht wirklich so, denn bei einem totalen Gesichtsverlust kann ich die Gruppierung verlassen, eine neue suchen und mit dem Bündel an Erfahrung von vorne beginnen. Versetzen wir uns in die Situation einer Tango-Tanzveranstaltung, getanzt wird Tango Argentino.2 Dies bedeutet, zwei Menschen tanzen auf einer Tanzfläche gemeinsam mit weiteren Paaren eine nicht-einstudierte und nicht-abgesprochene Folge von Tanzschritten, indem eine Person führt und die andere folgt. Die führende Person denkt sich passend zur Melodie und zum Rhythmus Muster und Schritte aus, die sie der folgenden Person durch das Regelkonzept „Führung durch die Brust bzw. über die Körpermitte“ vermittelt. Klingt äußerst kompliziert, ist allerdings ein Tanz der Achtsamkeit, weil beide sich aufeinander einlassen und konzentrieren müssen. Auf dieser Milonga – also der Tango-Veranstaltung – tanzen Paare, die sich kennen, miteinander, Menschen die sich aus dem ein oder anderen Kurs kennen miteinander, aber auch völlig fremde. Manche Menschen hat man zwar schon mal auf der einen oder anderen Veranstaltung gesehen, aber weder mit ihr gesprochen, noch mit ihr getanzt. Anstelle eines ersten Kennenlernens steht man sich plötzlich Fuß an Fuß, Leib an Leib und Arm in Arm gegenüber, nimmt den Geruch des anderen nach Schweiß, Seife, Parfum, Waschmittel, Rasierwasser, Hautcreme, Atem-Erfrischer, Bier, Wein, Zigarettenrauch als komplexes Ganze wahr und ist in diesem Moment ausgeliefert, denn schon die Höflichkeit verbietet ein Weglaufen. Nun entscheidet sich in dem Moment, ob nah oder distanziert getanzt wird. Für mich ist das deutlich vom Geruch und von der Schweißmenge abhängig. Diese Nähe im eigenen Intimkreis ist ungewöhnlich. Wir lassen sie nach den Regeln des Tango-Gesetzes zu und akzeptieren, dass uns ein absolut fremder Mensch ca. 12 Minuten lang uneingeschränkt nah ist. Natürlich gibt es Momente, die erotisch konnotiert sind, doch das ist nicht die Regel. Auch kommt es vor, dass nach mehrfachem gemeinsamem Tanzen der ein oder andere „Fremde“ denkt, dass sich mehr entwickelt hätte und neigt zu Vertraulichkeit (Kuss auf die Wange, mit Fingerspitzen die Wirbelsäule oder am Nacken streicheln, vertraulich die Wange anschmiegen, etc.), aber selbst das hat eine geregelte Grenze.

Brunnen – der zum Spielen einlädt

Wieso aber setzen wir uns diesen „Gefahren“ aus?

Tango Argentino ist in unserer Zeit und vielleicht auch nur in der westlichen Kultur insofern besonders, weil zum einen die beiden Tanzenden sich auf einen teilimprovisierten Tanz einlassen und nicht wissen, was sie erwarten wird, und zum anderen auf Milongas (den Tanzveranstaltungen) die Regel herrscht, dass man mit auch vollkommen fremden Menschen tanzen kann/ darf/ dazu bereit sein sollte. Was für den Tango gilt, mag in Ausnahmen auch für andere Tänze wie zum Beispiel Salsa gelten, doch ist das nicht zu verwechseln mit Standard und Lateinamerikanischen Tänzen, da man in der Regeln (es gibt sicher Ausnahmen) mit einem festen Partner tanzt, vielleicht auch in einer festen Gruppe.

An einem Tangoabend tanze ich in der Regel drei Stunden, vielleicht sitze ich davon zwei Tandas, also ca. 8 Tänze lang, vielleicht komme ich an einem Abend auf sechs bis zehn unterschiedliche Tänzer. Einige davon sind mir bekannt, manche mit mir befreundet, in die dritte Kategorie gehören die mir Fremden. Nicht jede Tanda ist ein Genuss, dennoch überwiegend ist es reizvoll, denn es hat Suchtcharakter. Ich mutmaße, dass die Nähe und die Körperlichkeit eine Ruhe und Zufriedenheit in mir auslösen, dass ich mich entspannen kann. In Gesprächen mit Tanzpartnern nannten sie ähnliche Erfahrungen. Es macht glücklich. Die Bewegung zu Musik, die Achtsamkeit miteinander und die Verbindung. Nicht immer fühlt man sie im gleichen Maße, doch latent scheint sie uns alle zu bewegen. Und ich stelle an mir fest, dass ich mehr Intimität (ohne Sexualität) mit Menschen will, statt oberflächliches Einerlei, statt Smalltalk und Schein-Verbindung.

Es führt ganz sicher zu einem intimeren Miteinander, zumindest geht mir das so mit meinen Tangomenschen. Umarmungen werden selbstverständlicher, Freundschaft wird selbstverständlicher. Auf der Tanzfläche werden die Gespräche intimer, privater, je häufiger man miteinander tanzt. Doch nicht alle Menschen tanzen, nicht alle Freunde sind tangomane Menschen. Natürlich sind auch diese in der Lage, andere zur Begrüßung oder zum Abschied zu umarmen, doch ist es weit weniger selbstverständlich, sich innig zu umarmen. Treffe ich auf meinen Tanzpartner, so ist die erste Umarmung innig und andauernd, treffe ich auf meinen Spielkollegen, dann ist die Umarmung eine gesellschaftlich akzeptierte auf Abstand gehaltene Andeutung einer Umarmung.

Ich möchte einen Schritt weiter gehen (gedanklich) und frage mich, ob nicht wie bei „blindes Huhn“ auch hier nur ein Schein-Risiko vorliegt. Ist es nicht vielmehr so, dass wir glauben, gesellschaftlich was zu riskieren, wenn wir nicht den Schein wahren? Was passiert uns denn, wenn wir körperliche Nähe zulassen? Was passiert uns, wenn wir laut sprechen, laut lachen und raumgreifend sitzen? Wovor haben wir Angst? Wieso haben wir Befürchtungen, was der andere denkt? Ich denke doch auch, was ich will. Ich kommentiere im Kopf alles Mögliche meines Gegenübers, manchmal sogar durch meine Mimik, aber letztlich wird es mir doch nur dann wichtig sein, wenn mir der Mensch wichtig ist, auf den diese Gedanken bezogen sind. Und wenn mir der Mensch wirklich wichtig ist, dann sind die Gedanken eine Mischung aus Wohlwollen und Kritik. Ebenso wird es umgekehrt sein. Manchmal enthalten sie Sorge, manchmal Eifersucht, manchmal Neid. Aber es sind meine Gedanken und aus diesem Grund auch in der Regel ungeäußert. Andere werden über mich ähnliches denken. Wenn mir die Menschen, die da denken, wichtig sind, würde ich dem Gewicht beilegen, wenn sie ihre Gedanken äußerten. Nicht immer tun sie das, also weiß ich oft nicht, was sie denken. Mir ist bewusst, dass wir davon ausgehen, dass aus den Gedanken mehr resultieren wird und dieses „mehr“ ist so undefiniert wie der Tango mit dem Fremden.

Mich umgreift innerlich immer häufiger der Gedanke, dass ich eigentlich sein könnte, wie ich will ohne unumstößliche Konsequenzen zu provozieren. Wenn die Menschen von einer Person wie Trump, Putin oder Hitler geleitet werden wollen, dann spielt doch ohnehin keine Rolle, wer ich bin oder wie ich mich gebe. Es ist ein Spiel und in meinem Universum bin ich die einzige, die mit ihren Gedanken, den Konsequenzen des Handelns und den jeweils veränderten Bedingungen leben muss. Aber ich muss das alles auch, wenn sich die Rahmenbedingungen im Außen gravierend verändern (Umweltkatastrophe, Krieg, Seuche). Woher kommt diese Angst? Und wie komm ich wieder in das Paradies der unbegrenzten Möglichkeiten? So gern wäre ich ein Bonobo.

Das menschliche Miteinander erfordert Regeln, das ist ebenso alt und verankert in unsere Gesellschaftsbildung wie das Kultivieren von Ritualen für alles Mögliche: Phasierung des Jahres, Initiation für die Jugend, Verhaltensweisen, etc. Eine uralte Ausdrucksform, die an Regeln und Rituale gebunden ist, ist das Tanzen. Das Tanzen verlangt wenigstens zwei Dinge: Den Wunsch nach einem irgendwie gestalteten Miteinander zunächst einmal ohne die Absicht von sexueller Verbindung und das Vermögen, Musik zu hören, zu verstehen (also als Kette und Zusammenhang von Lauten zu begreifen) und in Bewegung übertragen zu wollen. Nicht jedem Lebewesen auf unserer Erde ist das Geschenk der Musik gemacht worden.

Eine emotional-körperliche Verbindung ohne sexuelle Absicht

Im Mittelalter dominierten strenge Regeln das Miteinander. Annäherung an das andere Geschlecht waren mit unzähligen Regeln behaftet. Der gesellschaftliche Tanz bot eine Möglichkeit der Annäherung, ein gesellschaftlich gestattetes Beschnuppern unter der Beobachtung vieler. Sicherlich kam es zu erotischen Emotionen, denn wenn man die Berührung auf ein Minimum reduziert, werden diese wenigen Momente des Kontakts zu ganz besonderen Ereignissen, jedoch wird nicht jede Begegnung Glücksgefühle ausgelöst haben. Noch heute gibt es in unserer Gesellschaft eine Intimitätsgrenze, die zwar von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe variiert, aber doch vor allem eine gewisse körperliche Schutzzone errichtet. Wir lassen Menschen unterschiedlich nahe an uns heran, was damit einhergeht, ob wir die betreffende Person gut oder weniger gut kennen. Die Sympathie und die gesellschaftlichen Regeln ergänzen diese Grenzen. Aber wir wollen körperliche Verbindungen eingehen. Wir sehen das bei den Kindern schon, wie sie miteinander kuscheln, als Geschwister beieinander schlafen und ganz ungezwungen mit ihrer Körperlichkeit umgehen, solange sich die Erwachsenen nicht bewusst oder unbewusst (wertend) einmischen. Dann erleben wir die Pubertät, der Rauswurf aus dem Paradies der Unschuld und der ewigen Fragerei im Kopf, ob wir gut genug sind, ob wir geachtet werden, ob wir zu weit gegangen sind, ob wir hätten weitergehen sollen, ob wir attraktiv sind, ob wir was verändern müssen, ob unsere (Schönheits-)Maßnahmen greifen, etc. Wir sind uns – ganz banal gesagt – unserer Nacktheit bewusst. Schlimmer noch, wir wissen, dass wir nackt vor die anderen treten und verschleiern unsere Nacktheit durch Worte, die doch offenlegt, was wir wollen. Je nach dem, wie geschickt wir sind, gelingt es uns auch mehr oder weniger zu blenden. Und wir sind alle gefällig, lassen uns blenden oder spielen in aller Höflichkeit das Spiel nach den Regeln mit, damit wir Anerkennung, Liebe und damit Zugeständnisse erfahren.

Vielleicht wäre die Lösung, uns selbst zu Bonobos zu kultivieren.

Wenn ihr Frieden wollt und wissen wen ihr lieben sollt
Fallt dem Schwarm in die Arme, denn das zieht euch wieder hoch
Euer Yin und Yang hat doch keinen Sinn und Zweck
Immer nur links und rechts, immer nur Krieg und Schecks
Doch es gibt kein Netz und es hat nie eins gegeben
Alles in Scherben und jetzt war’s wieder keiner gewesen

Also fegt jetzt zusammen, nehmt euch zusammen
Vergesst euer Programm und legt euch zusammen
Wiederstand ist zwecklos, nach unserer Erfahrung
Es stimmt was man sagt, Ihr habt echt keine Ahnung
Echt keine Ahnung
Null (null, null)
Zero

Fantastischen Vier, Die Lösung (2010)

  1. Die Hühner sind blind, können sich normal bewegen, ein Jäger kann sehen, darf nur kleine Gänseschritte machen und muss bei jedem Schritt ein „Piep“ als laut angeben. Wenn er ein Huhn gefangen hat, hakt sich das Huhn dann mit offenen Augen bei ihm unter, und sie jagen fortan zusammen, bis alle Hühner eingefangen sind. ↩︎
  2. Bereits wenn man einen Tango-Argentino-Kurs besucht, erlebt man, dass die Tanzpartner gewechselt werden, um das Erlernte nicht nur mit seinem eigenen Tanzpartner tanzen zu können. In einem Standardtanzkurs lerne ich gemeinsam mit meinem Tanzpartner eine Rumbatanzfolge und studiere sie mit ihm ein. Er übt für sich, ich übe für mich und dann tanzen wir das miteinander. Im Tangokurs bekommen wir ein Tanzmuster gezeigt, der wie ein Baustein verwendet werden kann, der kein Zwang hat, irgendwo platziert zu sein, damit eine bestimmte Abfolge funktioniert. Dieses Tanzmuster verlangt eine ganz klare Führung und ein klar definiertes Folgen, eine bestimmte Körperhaltung, eine bestimmte Achtsamkeit und eine Konzentration aufeinander. Erst wenn ich diese Abfolge auch mit x-beliebigen anderen tanzen kann, habe ich sie verstanden. An der Stelle die kurze Anmerkung: Bei üblichen Tanzkursen zu Walzer und Co neigen Partner dazu, sich zu streiten, weil der andere nicht macht, was er soll. Sie versteht ihn nicht, er versteht sie nicht, beide sind davon überzeugt, dass sie es richtig(er) machen, dass sie den Rhythmus halten, dass sie es besser verstanden haben, etc. Im Tangokurs deckt sich allerdings auf, dass beide die Figur nicht tanzen können oder nur in Teilen und dass der oder die Einzelne jeweils ganz eigene Baustellen hat, an denen es zu arbeiten gilt. Plötzlich stellt man bei sich fest, dass man den Rhythmus nicht wirklich erkennt und muss das trainieren, stellt fest, dass man die eigene Achse nicht halten kann, dass man den Fokus nicht halten kann oder ähnliches mehr. Tango ist also auf jeden Fall eine Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit sowie den eigenen Möglichkeiten und Grenzen. ↩︎