EU-Wahlen – Sozialwahlen: Brutal kapitalistisch oder fair im Kapitalismus?

Care-Arbeit ist kein masochistischer Frauenzug, auf den man in Zukunft setzen kann.

„Ehrlich, man muss ja keine Kinder bekommen. Ist freiwillig! Wer sich für Kinder entscheidet, entscheidet sich gegen Reichtum und Karriere und gegen Freizeit für die nächsten zehn Jahre Lebenszeit. Einfache Rechnung. Wer das nicht will, verhütet oder treibt ab. Wir leben im 21. Jahrhundert, da braucht sich niemand mehr dafür rechtfertigen, wenn er sich gegen Kinder entscheidet. Gibt ja eh genug Menschen auf der Welt.“ O-Ton Ende. Die Sprecherin: eine junge Frau Ende zwanzig.

  1. Problem: Überalterung der Gesellschaft. Spätestens, wenn ich alt und hilfsbedürftig bin, wünsch ich mir einen Familienanschluss.
  2. Problem: Unsere Gesellschaft kann sich auch nur scheinbar ein Volk von Egoistis leisten, am Ende brauchen wir Nachwuchs in allen Bereichen.

Das zweite Problem lässt sich natürlich über Zuwanderung lösen, doch genau an dieser Stelle wird es hakelig, denn die Zuwanderung lässt sich nicht nach Berufen durchplanen. Die Öffnung muss auch für die Menschen erfolgen, nicht nur für deren Fähigkeiten und Fertigkeiten. Auch die zu uns wandernden Menschen wollen Familienanschluss und kommen nicht als Roboter. Das erste Problem ist nicht nur eines der Einsamkeit, sondern vor allem auch der durch das Altern bedingten Hilflosigkeit.

Gehen wir also für einen winzigen Moment davon aus, dass Kinder ein notwendiges Übel für das Fortbestehen der Gesellschaft ist – gerade den Konservativen müsste das klar sein und deswegen förderungswürdig erscheinen. Gehen wir weiter davon aus, dass wir uns wünschen – ganz konservativ gedacht –, dass unsere Zukunft in wirklich gut ausgebildeten Händen liegt und nicht dem Zufall überlassen ist, dann geht es um Erhalt dessen, was unsere Wertevorstellung ist. Soweit, so hübsch. Für alle, die es jedoch noch nicht verstanden haben:

Der Bildungskanon zerfällt.

Wenn wir wollen, dass für künftige Generationen „Verantwortung“, „Zuverlässigkeit“, „Fähigkeit im Beruf“, „Belastbarkeit“ und „Kompetenz“ nicht bloße Füllwörter sind, dann braucht es leider eine Veränderung des aktuellen Sparkurses. Dann muss der Zauberstab mit Geldspitze geschwungen werden: Kleine Klassen, mit Lernmaterial und Experimentierräumen ausgestattete Schulen, zentrale unabhängige Überprüfungen von Prüfungsergebnissen (ZP, Abitur, Staatsexamina), qualifizierte Bildungskräfte (und ich meine absichtlich nicht Lehrkräfte, die ihren Stoff durchbringen wollen) und pädagogisches Personal sowie Schulen, die danach ausgerichtet sind, moderne Erkenntnisse des gesunden Lernens, umzusetzen. Schluss mit der zwei Klassenstruktur, die nur scheinbar gleichberechtigt nebeneinander steht: Gymnasium contra Restschulen. Beginnen muss man bei den Schulen, die im sozialen Brennpunkt stehen. Je schneller dort gehandelt wird, desto weniger gehen uns wichtige Ressourcen für unsere Gesellschaft von morgen verloren. Nicht die Bildungselite zuerst, sondern die zuletzt, denn teurer kommen uns die „armen“ Kinder zu stehen (Vandalismus, Radikalisierung, Drogen, Sozialabgaben, etc.).

Kinder sind nicht allein subjektive Statuselemente für ein Liebespaar und deren Work-Life-Balance-Killer.

Der Staat muss ein Interesse haben, dass Kinder die Zukunft unserer Gesellschaft so tragen, wie wir uns das auch für unser Alter später wünschen. Wenn wir gesellschaftlich nicht begreifen, dass jedes KIND von der gesamten Gesellschaft finanziell zu gleichen Teilen getragen werden muss, dann verschlafen wir unsere Wunschzukunft im Dornröschenschlaf. Wenn ich mich für Karriere und gegen Kinder entscheiden darf, dann muss ich die finanziellen Mehrkosten für jene übernehmen, die sich nicht um Karriere kümmern können, weil sie stattdessen dafür sorgen, dass später zum Beispiel Pflegepersonal vorhanden sein wird. Konservativ gedacht, muss Carearbeit in der Familie belohnt werden, mehr als jede Form von Karriere, denn letztlich ist es die Arbeit für die Familie, die unsere Standards in Zukunft sichert.

Wieso legen wir Frauen nicht unsere Care-Arbeit in das Nähkörbchen und holen sie erst hervor, wenn wir uns langweilen, ganz so wie ein Hobby?

Wenn ich – und so habe ich damals schon gedacht, als meine Kinder klein waren – für all die Arbeit jemanden bezahlen müsste, könnte ich mir das vermutlich nicht leisten. Umgekehrt fühlte ich mich wie die Ausbeuterin meines Mannes, als ich nur für meine Kinder da war, nicht einmal den Haushalt richtig bewältigen konnte: nur einkaufen, kochen und für die Kinder sorgen. Ausgebeutet hab ich den Mann, der als zwischendurch Alleinverdiener, dann als Hauptverdiener uns anderen versorgten. Mein Anteil an all dem war doch nicht so groß, nur sehr zeitintensiv. Gespart habe ich an Zeit und Ausgaben für mich. Fatal, denn so funktioniert unsere Gesellschaft überhaupt nicht. Oder doch? So funktioniert sie die letzten Jahrzehnte.

Was aber heißt das schon? Wir haben alle ganz billiges (unglückliches) Fleisch. Das Rind zählt zu den erfolgreichsten Säugetieren in seiner Masse, aber ist es deswegen individuell damit zufrieden? Kann es wohl kaum, wenn man sich Dokumentationen wie zum Beispiel „System Milch“ von Andreas Pichler aus dem Jahr 2017 vor Augen führt. So wie dieses System am Kapitalismus krankt, so durchdringt es Lebensraum für Lebensraum, eben auch unseren Bildungssektor, der nicht billig genug sein kann.

Wir alle liegen aber entspannt in unseren Liegenstühlen, weil das so bequem ist und warten lieber erstmal ab, ob sich was ändert. Die Seuche Covid hat uns nicht nachhaltig aus diesem Schläfchen gerüttelt, warten wir also, bis es zu weiteren Überschwemmungen, Hungerkatastrophen, Kriegen um Ressourcen und weiteren Flüchtlingswellen kommen wird. Wir leben in einem sehr fruchtbaren Land, was wir vergessen, weil es billiger ist, Lebensmittel zu importieren, doch was wenn … Wenn wir überrascht werden, in diesen unseren bequemen Liegestühlen und plötzlich keine Lebensmittel aus Südeuropa und Übersee mehr bekommen können? Jaja, dann mal fix wieder zurück zu Landwirtschaft? Alles braucht wenigstens ein Jahr Anbau und Pflege. Woher nehmen wir nur diese Idee, dass alles so bleibt, wie es war, wie es schön für uns, während wir uns umsehen und mitbekommen, dass Überschwemmungen, Trockenheit und politische Unruhen zunehmen?

Wir müssen dazu kommen, dass Europa stärker zusammenwächst und wir uns täglich darin erinnern, dass wir nicht einander Fremde sind, sondern Brüder und Schwestern. Wenn wir wollen, dass sie unsere Werte von Toleranz und Achtung teilen, dann gelingt das nur über Aufklärung durch Bildung. Wir müssen GELD für die Bildung anfassen und zwar reichlich.

Wenn wir wollen, dass unsere Welt nicht täglich bedroht ist, aus den Fugen zu geraten, dann müssen wir mit unserer Umwelt stärker im Einklang leben: saisonal Essen, Konsum reduzieren, den Tieren den respektiven Platz im Leben einräumen, den sie als Lebewesen ebenso verdienen wie wir.

Wenn wir wollen, dass es allen gut geht und nicht Angst und Neid (bzw. Egoismus) unser Miteinander bestimmen, dann muss uns Toleranz, Verständnis und Vertrauen selbstverständlicher werden . Wenn wir uns umeinander kümmern und niemanden zurücklassen, dann sind wir vielleicht nicht mehr der Luxusreichste Staat, doch insgesamt ein zufriedener.

Lehrkräfte in Anwärterschaft – Ausbildung oder Ablenkung?

Was würden Sie erwarten, wenn Sie für den Lehrerberuf ausgebildet werden würden?

Wie standardgemäß bewertet und korrigiert wird? Welche Aufgaben zu Ihrem Arbeitsfeld gehören? Würden Sie erwarten, dass man Ihnen erklärt und es Ihnen unter Umständen beibringt, wie man mit großen Gruppen und kleinen Gruppen, wie man mit heterogenen Gruppen umgeht? Vielleicht auch, was Sie beachten müssen, wenn Sie im Besonderen mit Jugendlichen und damit mit Pubertierenden umgehen? Vielleicht geht Ihr Gedankengang soweit, sogar zu denken, dass eine Rechtsgrundlage im Umgang mit Schülern und Schülerinnen, mit Erziehungsberechtigte zu den notwendigen Werkzeugen gehört, die Sie kennen sollten? Oder denken Sie, dass eine Lehrkraft wissen sollte, wie man im Falle eines Schülers mit plötzlichen Zuckerschock (Diabetes) umgehen müsste? Grundkenntnisse in psychologischer Hinsicht wie zum Beispiel Panikattacken und ihre Verläufe, Auswirkungen von Schlafstörungen, Erkennen von jugendgefährdenden Symptomen zum Beispiel häusliche oder schulische Misshandlungen? Sollte man als Lehrkraft wissen, wie man bei Mobbing gezielt vorgehen kann? Wie man gegebenenfalls Opfer schützt? All diese Dinge sind mir in meinen Berufsjahren begegnet, zu nichts von dem wurde ich geschult.

Das alles hat mit einer Ausbildung zu einer Lehrkraft in Deutschland nichts zu tun. Als Referendar oder Lehrkraft in Anwärterschaft haben Sie schließlich ein sehr interessantes breitaufgestelltes Fachstudium mit einem Ergänzungsstudiengang (Klein „e“ genannt) erfolgreich abgeschlossen. Alles, wirklich alles, was Sie dort gelernt haben, können Sie getrost ablegen, denn jeder Wissensinhalt ist für die Köpfe Ihres Klientels zu mächtig und jedes wissenschaftliche Arbeiten unbrauchbar für Schulzwecke. Sie haben einen großen Überblick, erkennen Zusammenhänge und vielleicht Notwendigkeiten, davon lässt sich jedoch vielleicht eine Messerspitze vermitteln, an Gymnasien eventuell auch ein Fingerhut. Ihr Kopf ist vielleicht randvoll mit allen möglichen Theorien zur guten Erziehung, zu Schulsystemen, doch Sie werden noch erfahren, dass Theorien eben sind, was sie sind: Theorien. Theorien verhalten sich zur Realität wie Mythen zur Wahrheit; irgendwas ist dran, aber was genau, bleibt nebulös und erfahrungsabhängig. Sie haben Hintergrundwissen, wie Lernen funktioniert? Schön und unbrauchbar, weil das System Schule, in dem Sie förderhin Mitglied sind, diese Strategien nicht nur unbrauchbar macht, sondern ihnen entgegenwirken. Die Schule als System tötet nach und nach jede Lernlust ab.

Die Ausbildung zu einem Lehrer beginnt nackt und oft mit Frostbeulen. Sie bekommen gesagt, dass Sie sich bei Fragen an Ihre Seminarleiter wenden können, doch da diese „brutal“ das Spiel „der Richter und sein Henker“ spielen, sind Sie gut beraten, besser nicht zu zeigen, dass Sie kein/e geborene/r Montessouri sind. Wagt man Fragen wie „Was mache ich denn, wenn …?“, bekommt man eine diffuse Antwort, die auf alles passt: „Sie werden merken, dass jeder Lehrer und jede Lehrerin eine eigene Strategie entwickelt und Sie im Laufe der Zeit, Techniken erwerben, mit denen Sie damit umgehen können!“

Beispielfall Egon

Ja, wenn der kleine Egon eben bockt oder zickt, dann rufen Sie die Eltern an, weinen sich bei denen aus und verlangen, dass sie ihren Egon mal wieder in die Spur setzen. Egon, das ist ein Name auf einer Notenliste und auf jeden Fall ein Problem anderer Leute. Die Klassenlehrkräfte zum Beispiel, die wissen alles über Egon. Wieso er einnässt, dass er nur noch bei Papa wohnt und dass ein Psychologe eingeschaltet ist. Ein ganz schlimmer Fall, Egon kann man verstehen. Tja, aber in Ihrem Unterricht muss er dennoch das Spiel „braver Schüler“ mitspielen. Schließlich können Sie sich wirklich nicht um die privaten Probleme von Egon kümmern (denn da sind schon all die anderen schulischen sozialen Themen), haben einen Stoff durchzubringen und neben Egon noch wenigstens 25 andere Kinder, die alle ein Recht haben, dass man sich um sie kümmert. Natürlich geht das nicht, denn dann werden Sie einfach nicht fertig und mehr als ein paar Einheiten 45 Minuten haben Sie nicht, da müssen Sie knausern mit der Zeit.

Egon ist ein Individuum in der Entwicklung und der hat Schwierigkeiten sich in seinem Umfeld zu orientieren, er hat Schwierigkeiten mit sich selbst, weil seine Welt zusammengebrochen ist und weil er sich selbst auch gerade nicht versteht. Er soll aber verstehen, dass hat man ihm gesagt. Daneben ist Egon ein ganz normaler Junge, der ebenfalls dafür sorgt, dass andere Kinder Respekt vor ihm haben, seine Gefühlslage nicht durchschauen und er Tom und Mohammed zeigen will, dass er sich nicht unterkriegen lässt; dann sind da die Mädchen, die er nicht versteht und dann kann er auch Lehrer X und Lehrerin Y nicht leiden. Egon kommt schlecht aus dem Bett, träumt gerne lange und will sich morgens nicht hetzen lassen. Hunger hat er morgens nicht und all diese Unruhe führen oft zu Übelkeit. Merkt Egon kaum, weil er sich schon daran gewöhnt hat.

Egon muss in der Klasse seine Position herausfinden. Als Junge bedeutet das auch, sein Verhältnis zu den anderen Jungen zu ermitteln, stark sein und dafür Sorgen, dass über die anderen gelacht wird.

Für Sie ist Egon jemand, der hinten in der Klasse neben Tom und Mohammed sitzt, der wie ein Echo für Unruhe sorgt, sobald Tom als erster einen blöden Witz macht. Egon ist der, dem Sie drei Mal sagen müssen, er solle endlich sein Heft aufschlagen und die Tafel abschreiben. Er verweigert, er ist langsam und er holt sich bei Mohammed und Tom die Bestätigung dafür. Für Sie ist Egon ein Problemfall, weil er zusätzliche Aufmerksamkeit braucht und sein Vater nicht erreichbar ist.

Wenn Sie Egon ansehen, losgelöst von Ihrem Job, für die nächste Klassenarbeit den Stoff durchzubringen, losgelöst von den Aufgaben, alle Fehlenden und Störenden ins Klassenbuch einzutragen und noch die Hausaufgaben zu kontrollieren, losgelöst von all Ihren Zielen, so könnten Sie doch nichts für Egon tun, außer zu sagen, dass dieses Schulsystem ihm nicht gerecht wird. Natürlich kann man auch den Lehrkräften generalisiert die Schuld an etwas geben, was systemisch bedingt ist, wie es zum Beispiel Sigrid Wagner tut, wenn sie den Unterricht diagnostisch beurteilt und über die Kolleginnen und Kollegen ihr Urteil fällt, wenngleich meist der Unterricht hinter verschlossenen Türen verläuft. Letztlich ließe sich Egons Problem und natürlich auch das von Sigrid Wagner nur lösen, wenn wir anfingen, Schulen als Bildungszentren neu zu denken.

Die Schulenge der Zeit – das ORGA-MONSTER

Was Sie als Referendar bislang noch am Rande tangiert, ist die Enge im Kalender. Als Frischling wollen Sie die nächste Stunde bestehen, müssen Ihre Stunden vorbereiten, die Sie als perfekter Vorführung zeigen. Und das lernen Sie auch sehr schnell: Es gilt wie früher in der Schule jenen zu gefallen, die Sie Stunde um Stunde bewerten werden: dem Kurslehrer, dem Fachleiter, der Hauptseminarleitung, der Schulleitung … einmal alle durch. Hier brauchen Sie Gutachten, dort brauchen Sie eine Note, da ein gutes Feedback. Und wie Sie selbst später als Lehrkraft ausweichen, wenn ein Kind vor Ihnen steht und eine Note haben will, weil ja eine Note gar nicht alles und weil eine Note überhaupt keine wirkliche Aussage trifft, so geschieht es Ihnen, wenn Sie den Fachleiter fragen. Sie bekommen eine Tendenz genannt, vielleicht, eine mit Luft zur Entwicklung. Und später wissen Sie auch, wie Ihre Note zustande gekommen ist: Nadine, die andere Referendarin an Ihrer Schule oder in Ihrem Seminar, hat schon in Jugendcamps gearbeitet und ist pädagogisch vorgeschult, jede Stunde sitzt und wird besser als Ihre bewertet und Sie werden natürlich an ihr gemessen. Vom Haloeffekt will ich gar nicht erst reden (googeln Sie mal, ist spannend), auch nicht von dem unbewussten Sexismus, der natürlich vorkommt wie Mineralwasser im Gebirge. Menschen mit Macht haben Macht und benutzen sie zumeist auch, so wie Sie später als Lehrkraft. Also die Luft zur Entwicklung Ihrer Note ist oft sehr luftig.

Aber zurück zum Kalender: Der Jahresplan ist nicht nur für Ihre Prüfungen wichtig, nein, dieser Jahresplan jagt die Lehrkräfte über die Korridore, hetzt sie über den Schulhof und lässt sie zusammengekauert in irgendwelchen Lehrerzimmernischen hinter Rotstiftbarrikaden zurück. Alle Kreativität, alle Selbständigkeit des Lernens (was Zeit braucht, wie Sie theoretisch wissen), alle Lust an der Arbeit ist dem Edikt des Jahresplans unterworfen: Quartalsnoten, Notenkonferenzen, Klassenarbeiten, Parallelarbeiten, mündliche Prüfungen, Elterngespräche, Zeugnisnoten, Halbjahresabschluss, Schulabschluss, Vorbereitung des Elternabends, Konferenzen, Abiturprüfungen, Verschriftlichung des Schulcurriculums, Lehrplanänderung, Schulbuchinspektion, Fortbildungstage und zwischendurch Fehlstunden zählen, Klausuren erstellen mit Erwartungshorizont sowie mindestens zwei Ersatzarbeiten für Nachschreiblinge, Elternbriefe aufsetzen und den Tag der offenen Tür planen. Mal wieder einen Ausflug planen? Ja, das ist eine Idee, aber wohin nur damit, wohin? Wann kann sowas möglich sein? Alles wird zu einem organisatorischen Monster, dem man besser aus dem Weg geht. Wird eine Klassenarbeit geschrieben, ist es vielleicht die letzte Stunde vor einer geplanten Arbeit? Wie viele Kolleginnen und Kollegen müssen dafür abgestellt werden? Welche Stunden fallen aus? Wie können die vertreten werden? Ist Vertretungsmaterial an die entsprechende Lehrkraft gereicht? Der Referendar oder die Referendarin erfahren davon wenig bis kaum etwas, aber dieses Monster, das Orgamonster, ist gefräßig und es ernährt sich vom Stress, den es selbst auslöst.

Natürlich müssen Sie Rücksicht auf das Abitur oder einen Jahrgangsausflug nehmen, doch im Prinzip sind Sie im Schonraum. Wie in einer Blase tanzen Sie einen ganz wundersam anzuschauenden anderen Tanz nebenan, der mit Seminararbeit, Referate, Stundenausarbeitung und Stoffreduzierung zu tun hat. Gleichzeitig haben Sie natürlich auch schon „richtigen“, weil eigenständigen Unterricht, doch irgendwie ist das anders.

Wäre es nicht schön, Sie würden die Zusammenhänge erklärt bekommen und einen Einblick während Ihre Ausbildung erhalten, woher dieser Wahnsinn kommt und wie zum Beispiel Stundenpläne und Stundenraster entstehen? Und dann noch Spielräume? Schon das Wort ist eine Melodie in Dur, Hoffnung.

Erfahrungen aus meiner Referendarszeit – vielleicht überholt?

Wie sieht Ihre Ausbildung zur Fachlehrkraft aus? An einem theoretischen Seminartag, erhalten Sie durch sich und Ihre Mitreferendare Input, wie eine Reihe bis zur Klassenarbeit geplant und aufgebaut wird. Sie erfahren, woher Sie passendes Stundenmaterial bekommen, wie Sie das vorhandene Unterrichtsbegleitwerk plus den Lehrerband dazu sinnvoll nutzen können und Sie fragen sich, wie Sie wohl den Stoff in die Schüler und Schülerinnen reinbekommen können, so dass es der Seminarleitung gefällt. Und natürlich mit Rezepten guter Unterrichtsführung. Die wichtigste Frage für Sie und all Ihre Lehrerkollegen lautet: Gibt es dazu ein Buch? Ein Deutschbuch, ein Spanischbuch, ein Übungsbuch, ein Lehrerbuch? Das Buch ist der Tod des lebendigen Unterrichts. Als in der Fachkonferenz für Darstellen und Gestalten die Anschaffung eines Lehrwerks diskutiert wurde, habe ich innerlich geweint. Als nächstes folgten Klassenarbeiten und theoretisches Lernen von praktischem Wissen.

Simulationsunterricht? Nein, den haben Sie doch schon all die Jahre ausführlich genossen, daran muss man nichts verbessern. Simulationsgespräche führen? So tun, als hätte man wirkliche Probleme im Schulalltag zu lösen und nicht bloß die Frage zu stellen, welche Novelle eignet sich für Jahrgang acht als Gemeinschaftslektüre? Müssen wir die anschaffen oder kauft sich jedes Schüly selbst sein/ihr Buch

Ideen einer anderen Lehrerausbildung

Stellen wir uns vor, ich müsste 15 neue Kollegys auf ihren Unterricht vorbereiten und sie ausbilden: Fangen wir damit an, was ich meinen Referendaren sagen würde: Ich kann dir inhaltlich nichts beibringen, weil ich mein inhaltliches Material fast ausschließlich kurzfristig nach Bedarf auswähle, was grob zum Thema passt. Ich weiß sowieso viel mehr als meine Schützlinge und wenn die Lerngruppe stärker ist, bereite ich mehr Material vor. Was ich dir beibringen kann: Wie bestehe ich vor der Gruppe? Was sind gruppendynamische Prozesse? Woran erkenne ich, welche Rolle wer in der Gruppe spielt? Wie kann ich die Teamfähigkeit (Teambuilding: 27 Übungen für besseren Teamgeist (lecturio.de) Nicht alle diese Übungen sind hilfreich, es muss eine Auswahl nach Belastbarkeit der Gruppe getroffen werden) trotz Konkurrenzdruck fördern? Was braucht die Gruppe, um sich zusammengehörig zu fühlen? Was braucht die Gruppe, damit sie mich als Leader akzeptiert? Alles Inhalte, die ich im Rahmen meiner Theaterpädagogischen Ausbildung gelernt habe, denn im Theater kann ich einem Regisseur schlecht sagen, dass er mal ausprobieren soll, wie er mit der Gruppe klar kommt. Das war übrigens mein erster AHA-Moment in der Ausbildung als Theaterpädagoge.

Ich beruhige meine Referendare, weil die Schüler und Schülerinnen bei einer verkackten Stunde nicht in ein Dummheitskoma versinken, es richtet wirklich kein Schaden an, inhaltlich wird der meiste Lernstoff vergessen, dient nur als Material, formale und soziale Aspekte zu erlernen. Ich erkläre meinen Referendaren, dass ich sie zunächst beobachte und ihnen dann zu ihrer Körpersprache, zu ihrer Aussprache und zu ihrer Wortwahl ein Feedback gebe, nicht im Sinne von Wertung, sondern im Sinne einer Achtsamkeitsübung. Kinder und Jugendliche sind wie junge Hunde oder Pferde, sie sind sehr sensibel für Schwächen.

Dann stellt sich endlich die Frage, was Jugendliche eigentlich in der Schule sollen. Sind sie da, um Wissen aus dem Angebot zu schöpfen? Sind sie da, um bestimmte Softskills zu lernen? Sollen sie überhaupt etwas lernen?

Ich behaupte, vielleicht! Die Inhalte sind Stellvertreter für die Softskills, die sie mitnehmen können, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, doch ist eher die Absicht, dass die Schüler und Schülerinnen im geschützten Rahmen aufbewahrt werden und das möglichst preiswert. Wenn außerdem etwas dabei rauskommt, gut. Wenn nicht, nicht schlimm, muss dann die Wirtschaft auffangen. Dahinter steckt keine Verschwörung von dunklen Mächten, sondern eher das Ziel, möglichst wenig zu investieren und es so lange so laufen zu lassen, wie es geht. (Lesen Sie hierzu über das unsichtbare Handphänomen von Rudi Kellers „Sprachwandel“ und den Roman von Peter Hoeg „der Plan von der Abschaffung des Dunkels“. ) Wird an dem Konzept gerührt, dann kostet es viel Geld. Solange alle glauben (Lehrkräfte, Eltern, Kinder und Jugendliche) es seien alles individuelle Probleme, individuelle Systemschwierigkeiten, Standortphänomene, fehlende Ressourcen (was dem Hauptproblem grundsätzlich nahe kommt) oder ein Werteproblem (meine Lieblingslüge), so lange wird diese kaputte, nicht-zielführende Maschine Schule weiterbetrieben.  Wir wissen aus unserem Klein-e-Studium, dass Kinder und Jugendliche mit ihren STÖRUNGEN immer auf die Probleme aufmerksam machen. Wir wissen aus der Psychologie, dass Störungen Hinweise sind, denen man nachgehen muss, wenn man das zugrundeliegende Problem beheben will. Und es wird schlimmer, wenn man es ignoriert. Wir wissen auch, dass sich die Schule nicht wirklich verändert hat, seit wir in der Schule waren, seit unsere Eltern in der Schule waren und seit deren Eltern in der Schule waren. Medien haben sich geändert, die Stundentafel nicht, sie ist lediglich länger geworden, nur besser ist es nicht.

Wie geht es dann weiter? Ich würde meine Referendare zunächst einmal in Körpersprache schulen, sie zu Leitfiguren für die Schülys heranbilden. Anschließend stellt sich die Frage, was für Lehrkräfte sie sein wollen und wie die Zukunft unserer Schulen aussehen kann.

Also, lieber Referendar, liebe Referendarin: Was für Lehrkräfte wollen Sie werden?

Drum bedenke: Dein Weg ist weit und dein Erbe schwer.

samsing rong! Oder, wenn das Jugendschutzgesetz zum Bumerang wird

Eigentlich gut, dass ein Gesetz regelt, wie die Jugendlichen arbeiten dürfen, welche Zeiten eingehalten werden müssen und welche Pausenregelung nötig sind. Blöd nur, wenn das an den Möglichkeiten und Bedürfnissen der auszubildenden Betriebe wie zum Beispiel den Dienstleistern in Gastronomie und Einzelhandel vorbeiläuft. Dann ist es natürlich viel leichter, man stellt erst volljährige Jugendliche ein. Tja, das sind dann doch auch nur zwei Jährchen mehr als die vorgeschriebenen 10 Jahre Schulpflicht. Kein Problem, die hängt der junge Mensch einfach an die zehn Jahre dran, dann kann er jeden Job machen. Und wenn dann noch einige Betriebe auch lieber Volljährige einstellen, weil diese über einen Führerschein fügen könnten, weil sie reifer und entwickelter und ruhiger sind, dann bleiben am Ende der 10. Klasse wenig attraktive Ausbildungsplätze übrig.

Blöder wird’s, wenn den jungen Menschen als Propaganda für die verlängerte Schulhaft versprochen wird, dass sie alle Karriere machen können, alle bekommen ein Abitur und können dann die Universitäten bestürmen und reich werden.

Natürlich rechnet sich ein junger Mensch selbst mit diesen rudimentären Vorstellungen von Zahlen aus, dass die Haftverlängerung um zwei Jahre schon fast ein Abitur wert ist. Ich möchte nicht aus der Praxis erzählen, dass manch pubertierendes Subjekt glaubt, dass man durch Absitzen der Zeit schon erfolgreich aus der Schule gehen muss. Und ich will auch gar nicht darauf hinaus, dass diese sitzgesteuerten Menschen unreif, unerfahren und maßlos anspruchsvoll sind. Unerwähnt lass ich an der Stelle auch, dass eine Note „gut“ je nach Schule Unterschiedliches bedeuten kann, selten aber die inhaltliche Kompetenz wie zum Beispiel ein „gutes“ Englischsprachvermögen ausdrückt.

Ich verstehe inzwischen, dass Jugendliche eine ORIENTIERUNG brauchen und glauben, diese in einer Beurteilung wie in einer Note zu finden. Sie glauben das nicht allein, auch die Eltern und die Arbeitgeber sind diesem Wahn verfallen. Ich verstehe, dass sich alle eine Orientierung wünschen. Doch worin soll sie bestehen? Wenn Noten frei interpretierbar sind und jeder sich in einen Haufen Zahlen hineindenkt, was ihm vorschwebt, findet sich darin keine. Wieso sind wir nicht ehrlich genug, endlich mit all den Beschönigungsversuchen von Noten und Zeugnissen aufzuhören? Könnten wir einen Moment den Menschenverstand benutzen, würden wir erkennen, dass es nur noch eine Schule für alle Kinder geben sollte. Dort würde nicht nach Zahlen, sondern nach individuellem Entwicklungsstand (wie für die Förderkinder) geguckt; es gäbe standardisierte Prüfungen, die in bestimmte Kategorien weisen können (akademisch, handwerklich, kaufmännisch, pädagogisch, künstlerisch, technisch); es würde in diesen ein Mindestmaß an Fertigkeiten, Kompetenzen und Leistungen abgebildet und sie würden nicht von Lehrkräften ausgedacht und ausgewertet, sondern von einem unvoreingenommenen Prüfungskomitee. Und dann ist der Zeitpunkt gekommen, da man „aus einer Toilette trinken kann, ohne Ausschlag zu bekommen.“ Zitat aus „Nackte Kanone 2 1/2„.

Junge Menschen langweilen sich über alle Maßen in Schulen, in denen alles zu kurz kommt, in denen wir Lehrkräfte die Erziehungsarbeit von abwesenden oder desinteressierten oder überforderten Eltern übernehmen müssen, in denen wir mit überholtem Material, überholten Inhalten überfrachtete Curricula in der Zeit frontal vorbeiunterrichten, in denen wir sie nicht auf das Leben und nicht auf die Gesellschaft vorbereiten, außer, dass sie in Haftanstalten sind. Ein Gefängnis kann von seinen Strukturen nicht viel anders sein: Frage nach Essen, Frage nach Pippipausen, Frage nach Hofgang, Frage nach Redezeiten … Ist das nicht auch alles extern für Gefangene geregelt?
Intelligente und angepasste Jugendliche begreifen, dass sie das Spiel mitspielen müssen, sich an die Regeln halten müssen, damit sie irgendwann mit einem guten Zeugnis abgehen können und vielleicht irgendwann Freiheiten haben, wobei diese Freiheiten auch Hamsterräder bereitstellen. Die intelligenten Unangepassten durchschauen es genauso, doch lehnen sie das Spiel ab. Und dann ist der ganze Rest da, der vielleicht an die Lügen glaubt, aber es nicht hinbekommt oder der sich irgendwie verweigert.
Wir wissen, dass die Lernzeit erst in der Praxis erfolgt. Wieso behindern wir den Weg junger Menschen durch unsinnige Noten, die nichts mit dem zu tun haben, was die Jugendlichen wirklich können oder auch wirklich nicht können? Wieso verhindern wir Potenziale mit diesem kasernenartigen soldatenhaften Denken?

Wenn ich einem Unternehmer erzähle, wie Noten „passieren“, was sie wirklich aussagen und was sie auf keinen Fall rückmelden; wenn ich ihm erkläre, wie Unterricht aussieht, was ich inhaltlich im Unterricht in der Sekundarstufe I wirklich machen kann, dann kann er die Noten hinterfragen und erkennt, dass die Form der Auswahl nach Notenbildern unsinnig ist. Jedem einzeln zu erklären, was an unserem Schulsystem kaputt ist, vermag weder ich noch Herr R. D. Precht. Wenn nicht endlich mal jemand der Regierenden den MUT findet, dieses desolate System wirklich grundlegend zu verändern, ist es nicht mal mehr für 30 % eine kleine Lernoption, sondern für alle nur noch eine teure oder billige (je nach Betrachtung) Betreuung mit nachgeholtem Erziehungsauftrag ohne große Erfolgsaussichten.

Jugendliche warten oft nur auf den Moment, an dem sie aus dieser Anstalt heraus sind, um sich dann mit dem zu beschäftigen, was sie interessiert. Vielleicht stellen sie fest, dass sie das ein oder andere auch aus der Schule hätten mitnehmen können, wenn es denn etwas praxisnäher gewesen wäre.
Unsere Schulen sind alle so aufgebaut, dass jedes U-Fach SCHULBÜCHER hat, jedes. Auch ein Fach wie Haushaltsführung, wie Theater, wie Philosophie, wie Sport. Verrückt: alles muss gelesen, beschrieben und dokumentiert werden. Ich glaube zwar, dass man Feilen, Stricken und Spielen nur durch feilen, stricken und spielen lernt, aber vermutlich irre ich mich nach all der Schulpraxis. Ich unterrichte Philosophie, ich unterrichte Theater — äh falscher Satz. Ich habe diese Fächer und ich erarbeite mir Theaterstücke und ich diskutiere Fragen des Lebens mit den Jugendlichen, tatsächlich auch im Spaziergang; Bücher benutze ich sehr sehr ungern dafür. Im Deutschunterricht schreibe ich, weil man interessanter Weise Schreiben nur durch Schreiben erlernt. Wozu braucht es ein Buch, in dem mir bebildert erzählt wird, wie ich eine Möhre schäle? Wir lernen doch alle durch Zugucken und Nachmachen. Zugucken. Nachmachen. Augen auf und Praxis. Üben und üben und üben.

Wann können wir dieses desolate, überholte System ablösen?

Wann nur, wann?

Ich — ich erlebe das ganz sicher nicht mehr (als aktive Lehrkraft).