Reisen in der USA – Fortwährende Orientierung

Las Vegas – Kopie

“Im Alltag brauche ich nützliche Informationen für die Orientierung in der Welt.“ Richard D. Precht in seinem Vortrag “Wissen schaffen durch Wissenschaft“ an der Universität Luzern

Nicht nur im Alltag, sondern besonders auf Reisen muss ich mich wie anderen auch an einem neuen, fremden Ort orientieren. Das klingt so banal, dass ich an dieser Stelle den Reisebericht damit beenden könnte, dass diese Orientierung eine Selbsterfahrung ist, die ein jedes Traveltier für sich erleben muss und wird.

Im Gespräch mit den zwei deutschen Pärchen

Ein deutsches Pärchen in Mexiko erzählte mir, dass sie an jedem Ort nur drei bis fünf Tage blieben, bis sie dann weiterziehen, damit sie Südamerika in einem halben Jahr zu bereisen schafften. 3 – 5 Tage! Was für ein Stress in Dauerschleife: 1 – 2 Tage braucht es für eine grobe Orientierung, einen Tag, um zu wissen, was man dadurch alles verpasst oder was man nur anreißen kann und dann einen Tag (wenn man den noch hat), um sich auf das nächste Ziel vorzubereiten: Koffer packen, Tickets für die Weiterreise besorgen, Anschlüsse und Unterkunft organisieren, Essen. Allein, was es Zeit in Anspruch nimmt, diese Dinge vorzubereiten. Manchmal ist nur das Besorgen und Zubereiten von Essen immens aufwendig. Dann kommen die Sehenswürdigkeiten, die Must-Sees dazu. Das habe ich bei der Europatour schon abgelehnt, dass wir nur und nur in Bewegung sind, weil man eben nirgends wirklich ankommt. Aus dem Grunde habe ich Prag diese vielen Wochen wirklich genossen. Vermutlich ist das die Motivation von einigen Menschen, wiederholt an dieselben Orte zu fahren.

Die Frage hab ich mir natürlich nicht zum ersten Mal gestellt, also die Fragen nach der Sinnhaftigkeit des Berichts und die der Orientierung. Doch hier in Amerika merke ich, drängt sich mir die Orientierungsfrage überdeutlich auf, ebenso wie die Nützlichkeitsfrage dieses Berichts.

Öffentliche Verkehrsmittel und erste Wege

Kein Memory oder die Vorbereitung eines Kartentricks: Das sind von allen Städten die Karten für den Nahverkehr: die Bunte = Mexico City; Metrokarte = New York, Clipper = San Franzisco; tap = Los Angeles; Transit Pass = Las Vegas

Auch, wenn es böse Zungen nicht glauben könnten, ich lese Reiseführer oder besser Reisebegleiter, doch stehe ich dann am Flughafen ratlos und suche den Weg in die Stadt, weil ich mich trotz Informationen nicht wirklich auskenne.

Der San-Franzisco-Reiseführer meinte: eine Clipper-Karte besorgen. Weiter hieß es, dass es in SanFran zwei Verkehrssysteme gäbe: MUNI (Stadtverkehr) und BART (Fernverkehr); BART kann man nicht als 3-Tages-Ticket mitgebucht werden, muss aber für die Fahrt in die Stadt genutzt werden (stimmt nicht, der Bus braucht nur ewig länger). MUNI fährt hier nicht. Wo aber geht es zu den Zügen? Wo kaufe ich diese Clipperkarte (in USA muss alles gekauft und drei Mal gezahlt werden)? Ja, ich habe das gefunden, nach zwei Fehlversuchen trotz vorheriger Erklärung. Das Verstehen eines Reiseberichts ist auch sehr davon abhängig, mit welchen eigenen Erfahrungen man so zu tun hatte. Manchmal klappt das nur im Nachhinein.

Hat man einen Weg bereits zwei oder drei Mal gemacht, dann kennt man sich aus und denkt sich, dass es doch sehr einfach war. Aber diese Hürde und dieses Gefühl von Verlorenheit, bis es denn klappt!

Orientierung nach Zeitplan

Auf der Kayaktour bin ich von den New Yorkerinnen gefragt worden, was wir denn in New York machen wollen. Ich erklärte, dass ich einen Reiseführer hätte, aber noch keinen Schimmer, was drin stünde, denn damit beschäftige ich mich erst im Flieger, sonst bin ich nicht mehr hier, sondern schon in New York. Durch all die Termine und Vorbuchungen (hatte ich sonst nicht auf Reisen) bin ich sowieso schon oft an mehreren Orten zugleich.

Als Beispiel sei erwähnt, dass ich mehrere Menschen vor der Reise in Deutschland befragte, was sie in Kalifornien machen würden. Tatsächlich erklärten mir mehrere Menschen, dass San Franzisco um so vieles interessanter sei als Los Angeles und dass ich mich langweilen würde, wenn ich zwei Wochen in L.A. und Umgebung bliebe. Weil mir die Orientierung fehlte, habe ich gedacht, dass ich dann splitte, eine Zeitlang hier, eine Zeitlang da, denn nach L.A. wollte ich auf jeden Fall. Heute kann ich sagen, dass ich mir San Franzisko hätte schenken können. Interessant ja, aber eine Reise unter diesen Umständen eigentlich nicht wert. L.A. hingegen kam zu kurz, obwohl ich dort sechs Tage am Stück war. Für ein zweites Mal (egal wohin in Amerika) hätte ich eine Orientierung.

Easy Peacy – WLAN, Internet und alles mobil

Könnte man so sagen. Ja. Mexico funktionierte relativ gut, weil wir eine mobile Datenkarte eingesetzt hatte. Das haben wir in Amerika auch versucht. Lucy hatte es mit zwei SIM-Karten, beide funktionierten auch nicht bei mir.

Alte Fähigkeiten musste ich erst wieder aktivieren, mich auf sein Gedächtnis, auf Straßenschilder, und Ortsangaben verlassen. Und dann zwischendurch der Datenhunger, keine Worte nachschlagen können, nicht mal eben googlen, wo man noch hingehen könnte, kein Ticket mal fix online buchen. Gleichzeitig verlängerte sich der WLAN-Aufenthalt in Cafés und Zuhause, wenn man gerade im Chat war.

Aber nach einigen Wochen kann ich sagen, vertraute ich wieder auf räumliche Zusammenhänge, hatte ihm Kopf ein grobes Orientierungsnetz von New York, nutze eine Karte und näherte mich wieder wie früher durch optische Besonderheiten der Umgebung. Verschüttete Fähigkeiten, nicht verlernte. Welch ein Glück.

Erste Impressionen drücken sich ins Gedächtnis

Auf meine Nase als Mittel der Orientierung ist Verlaß, denn ein Ort stellt sich auch olfaktorisch vor, nicht nur optisch. San Franzisko stinkt an jeder Ecke widerlich nach Urin, nach Fäkalien, Abfällen. L.A. ist nicht überall besser, aber es gibt Ecken, da zeigen die Menschen nicht gegen alles ihre Abneigung durch Dreck und Fäkalien.

Zugegeben, auch L.A.‘s erste Duftmarke war von Urin geschwängert. Auf unserem Fussmarsch durch den Flowerdistrikt änderte sich das.

Nach sechs Tagen wussten wir, dass wir hier hätten länger bleiben wollen, dass wir von hier aus mehr von der Natur hätten sehen wollen. Insgesamt waren wir nicht fertig mit dieser Stadt. In dem Punkt waren wir uns einig. Und Lucy teilte diese Meinung, obwohl San Franzisco mehr ihrem Klima entspricht – nicht so heiß.

Las Vegas: Lobby des Bellagio
Anti-Hitze Sprühflasche

Las Vegas; wir treten aus dem schön klimatisierten Flughafengebäude und werden heiß angefönt. Es fühlte sich an, wie in der Sauna. Und ich bin aus San Francisco viel zu warm angezogen für diese Begegnung. Öffentliche Verkehrsmittel geben wir dann an der Busstation auf und nehmen unser erstes Taxi Vegas. Die Hitze ist unerträglich. Ich bin stets mit meiner Sprühflasche bewaffnet.

New York hingegen überrascht besonders. Die erste Geruchsprobe war ein angenehmer Duft aus der Mischung von warmen Speisen und Blumen. Untergebracht in Manhatten Uptown brauchen wir mal wieder für jede Strecke mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ca. eine Stunde.

Kleine Wege werden zu groß

Lombardstreet von oben – so gibt zumindest der Ausblick eine schöne Perspektive

Was Amerika insgesamt schwierig macht – insgesamt ist gut, kenn ja nichts davon: Es fehlen schöne Innenstädte oder Stadtkerne, die das Flanieren und Verweilen ermöglichen. Ja, es gibt Spots, die von Interesse sind, aber eben dann auch gleich völlig überlaufen und touristisch. In diesem Land sind die Menschen noch autofixierter als ein Baby auf das Saugen. Ohne Auto ist man hier auch verloren. Als Beispiel: Als wir in SanFran in der so gerühmten Lombardstreet waren, dachten Lucy und ich: Was? Das war es jetzt? Bei uns würde sowas nicht mal in einem Reiseführer Erwähnung finden, geschweige denn als “legendäre Schnörkelstraße“ beschrieben, die “kaum“ steiler geht, “und schöner auch nicht“ (Zitat Marco Polo). Sie ist wirklich uninteressant, langweilig und unbesonders (anders als das Wort “unbesonders“). Ich denke an die Kanäle von Colmar, wenn da jeder Blumenkorb, jeder Kanal, jede Straße so besungen worden wäre, dann müsste man Wälzer füllen, oder Straßburg oder Prag oder Krakau oder London oder Bangkok. Was gibt es für herrliche Städte überall auf der Welt!

Und wieder den Fehler gemacht, zu glauben, dass da mehr sein muss. Der verwöhnte deutsche Geist, denn bei uns ist immer mehr drin, als draufsteht. Die Highlights werden beworben, nicht das “Überhaupt“. Hier ist das Bisschen aufgehübscht im Designerkleid. Aber Bilder machen es so gut:

Wenn ich aber – zurück zum Beispiel – nur mal kurz mit dem Auto rüberdüse (brauche vielleicht vom Hotel knapp 20 Minuten, was hier sehr kurz ist, gemessen an den üblichen Dimensionen), dann kann ich lächeln, Fotos machen und bin raus aus der Nummer. Gut, vielleicht noch ein Giftshop suchen, um ein Erinnerungsstück mitzunehmen und irgendwo Tip hinzulegen. In diesem Fall gab es das mal nicht, muss ich der Ehre halber erwähnen. Vielleicht fehlt es an schönen größeren Versammlungsorten, weswegen dann diese Touristenspots stattdessen überbordend mit Menschen angehäuft sind. Hoffentlich gelingt uns das Innenstadtsterben zu erlösen, indem wir endlich den Kern des Stadtlebens verstehen lernen und uns in Europa nicht weiter dezentrieren.

Verkehrsmittel Nummer EINS in der USA

Apropos Auto: Mein erstes und eigens gemietete Mietauto hatte ich in L.A., nachdem wir einige Tage mit Bus und Bahn zugebracht hatten. Das hatte auch ganz gut geklappt, aber natürlich macht ein Auto unabhängiger. Schon, da es uns all unsere Belongings trägt. Die Zeiten für die meisten Strecken waren jedoch genauso lang wegen des hohen Verkehrsaufkommens. Wir hatten ein kleines Auto gebucht, weil ich meinem Geld nicht so böse bin. Und als ich das am Flughafen abholen wollte (ich dachte an sowas: rein, abholen, raus), hatte ich nicht mit einer Wartezeit von einer Stunde für die Papiere gerechnet. Der Mensch am Schalter fragte mich, ob ich vielleicht das Auto nicht doch upgraden wollte. Weil ich nicht verstand und dachte, er habe diese Größe nicht, sagte ich – meinen Geld wirklich nicht böse -, dass ich auch ein kleineres Auto nähme. Er guckte mich mit tellergroßen Augen an (die besser zu seinem gesamten Umfang passten) und fragte wirklich entsetzt: “Noch kleiner? Wie kann man ein so kleines Auto wollen!“ Wir erklärten was von Benzin und Parklücken, aber er zeigte sein Unverständnis. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich für mein Ego nichts brauche, um es aufzupolieren, schon gar kein dickes Auto, aber ich ließ es.

Autos? Und nur Opas gehen mit kleinen Mädchen spazieren

Als ich hinter dem Steuer saß, Automatic, da war mir mulmig. Ich wusste nicht, wie das geht. Da all die Amerikanys wirklich freundliche Menschen sind, frug ich den erst Besten, der am Auto stand, ob er mir die Schaltung nochmals schnell erklären könne. Dann die Straßenführung, alles ein wenig anders als in Europa. Ich hatte gedacht, dass ich durch die Europatour einen Vorteil hätte. Nein, funktioniert alles ein bisschen anders. Aber wirklich ENTSPANNTER. Ich entspannte mich mit und merkte, es ging ganz gut. Keinen Schaden verursacht, lange Strecken auf dem Freeway gemeistert und sogar einen Nationalpark gefunden. Auch hier allerdings eine gute Zeit der Orientierung habe ich gebraucht. Nicht vielleicht so viel, aber immerhin hat mich das sehr unruhig gemacht. Die letzte Hürde hieß tanken, das klappte dann aber auch ganz gut, weil uns wieder ein junger Amerikaner zeigte, was wir nehmen und wie wir den Zapfhahn fixieren können.

Darstellung der Preise und das Tip

Zum Lifestyle gehört es hier auch, viel Geld auszugeben für Luft. Heute habe ich eine Pizza (normale Größe) für 31 Dollar gekauft. Lucy und ich habe sie geteilt. Hätten wir in Deutschland auch, aber hätten nicht einmal die Hälfte dafür bezahlt – außer in einem sehr sehr noblen italienischen Imbiss. Ausgewiesen war die Pizza mit 25,99 $. Mein Tip fällt hier eher spärlich aus und ist doch viel zu üppig. Nein, alle Preise sind ohne Tax und Service und da kommt dann noch bitte der Tip drauf. Ob die Rechnung stimmt? Ich kann darauf nur vertrauen. Und Tip muss ich ständig korrigieren, denn hier wird nach Prozenten gerechnet. Lustig ist, dass man bei jedem Kauf ein Gerät hingehalten bekommt, auf dem man antippen kann, ob man 25, 20, 15 oder 12% Tip geben möchte, dann gibt es noch eine Taste, wo ich den Geldwert selbst bestimmen darf – nicht in Prozent. Ich denke mir, wenn ich hier schon die normalen Preise als ungerechtfertigt ansehe, dazu dann die Tax kommt, mit der ich jedes Mal noch höher im Preis strudele, dann mag ich an Tip gar nicht mehr denken. Das kommt mir aufgesetzt und lächerlich vor. Aber das sich auch noch ein Taxifahrer beschwert, dass er so wenig Tip bekommt, ist mir noch nie passiert in Deutschland. In Deutschland kommt vom Gast der Tip als Danke, hier verlangt die Servicekraft das Trinkgeld. Wieso ist das so normal? Ich weiß, dass die Gastro davon lebt. Aber ist das fair? In Deutschland hab ich nie darüber nachgedacht, weil ich da das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht so unverhältnismäßig finde, um unwillig Trinkgeld zu geben, aber auch dort habe ich noch nie 15 % aus der Tasche gelassen. Was ich für mich mitnehme: Eine größere Wertschätzung unserer Qualität und unserer Gründlichkeit in den kleinen Dingen. Ich werde eher darüber nachdenken, in meinem Land großzügiger auch im Lob zu sein.

Das wichtigste Kulturgut – Essen

Oh, das Essen. Die erste Orientierung ist oft, was man in der Fremde essen kann. Was kann man hier essen? Manchmal denke ich, ich verhungere lieber, als das zu essen, was mir angeboten wird. Fast Food ist es all zu oft. Mir vergeht selbst dann die Freude an den möglichen Nahrungsmitteln, wenn ich mich den Preisen zuwende. Meine Erwartungen springen dann in die Höhe und das Ergebnis kann diese kaum erfüllen. Ich liebe es, hier und da kleine Fingerfoods zu probieren. In Mexiko die Waffeln oder das Obst. Hier hingegen verbrenne ich mir eher die Finger, bevor ich irgendeinen Cake ausprobiere. Wir essen zwei Mal am Tag maximal und dann möglichst sättigend für lange Zeit. Wir sehen zu, dass wir irgendwoher Wasser mitnehmen können, wenn es denn mal kostenlos ist und sparen uns jedes Abweichen von der Wasserregel. Ein Bier habe ich hier getrunken, bei Alex ein Eistee, ein Smoothie in Chinatown, dafür hab ich dann eine Mahlzeit ausgelassen. Kuchen, Süßigkeiten, etwas Abseitiges? Nö. Ich träume vom Backen und vom Kochen, von schönen großen Küchen. Ich frage mich, wann ich endlich wieder einkaufen darf, ohne in Tränen auszubrechen, weil ich für eine Banane 1,50 € zahlen soll (ja, richtig gesehen, eine einzelne Banane). Aber immerhin, eine Banane stillt den Zuckerbedarf und macht satt. Schokolade? Für fünf oder sechs Dollar kaufe ich doch keine Tafel Schokolade. Ja, was Essen anbelangt, bin ich oder sind wir auf Entzug. Für den Kick haben wir ein Glas Schokiaufstrich und Erdnüsse gekauft, die uns über den Tag helfen können. So hätte ich das trotz allem auch nicht erwartet. Aber Verzicht erhöht ja den späteren Genuss.

Der letzte Ort für die Reste – Toiletten

Qualität misst sich in der Gastro nicht zuletzt auch an den angebotenen Toiletten. Hier werden sie passend Restraum genannt – natürlich verballhorne ich das, aber so ist es fast überall (außer bei den Studios und der wirklich gehobenen Gastronomie oder vieler Orts in Vegas) eher eine Katastrophe, die stille Örtlichkeit aufzusuchen. Dass in kleineren Restaurants oder im Schnellimbiss sich Männer und Frauen ein WC teilen, ist in Thailand auch kein Problem gewesen. Nein, oft wirkt alles alt, abgegriffen, kaputt und dreckig. Qualität gibt es hier, durchaus, aber sie ist sehr sehr teuer und auf jeden Fall keine Selbstverständlichkeit.

Im Kontrast – die Amerikanys

Alldem stehen die Menschen in diesem Land gegenüber. Wenige natürlich, die wir etwas näher kennenlernen durften. Die Menschen sind begeisterte Smalltalker. Auf dem ersten Blick offen und interessiert. Doch das ist nur flüchtig. Alles kann, nichts muss. Mit meinem Akzent falle ich sofort mit dem ersten Laut so stark auf, dass ich als erstes immer nach meiner Herkunft gefragt werde – ich verstehe, dass das irgendwann nervt, auch wenn es hier ein Qualitätssiegel ist, aus Deutschland zu kommen. Dann gibt es einige routinierte Fragen und schon geht man wieder auseinander. Eine davon ist, was ich von dem Land halte, eine Standardfrage wie die, wie es mir geht. Ich frage dann oft, ob die Antwort ehrlich ausfallen soll. Dann spreche ich von meinen Beobachtungen, wie zum Beispiel, dass ich (mit grauen Haaren und Falten im Gesicht) meinen Personalausweis zeigen muss, um eine Flasche Wein zu kaufen, dass es keine Innenstädte gibt, dass alles so überteuert ist, dass zu viele Menschen offensichtlich eigentlich hier nicht leben können, dass es zu offensichtlich zweite und dritte Klasse in dem Land gibt – sogar auf der Autobahn, dass ich die Fastfoodkultur nicht teile, etc. Und sie sagen, dass sie sich genauso eine andere Politik und eine andere Sozialstruktur wünschen, aber eben Geld die Politik bestimmt. Das Gespräch endet und ich glaube, dann denken sie auch nicht weiter darüber nach. Doch die Amerikanys sind unendlich hilfsbereit. Die amüsanteste Geschichte erlebten wir in Las Vegas, als wir vom Schauer durchweicht wurden und ein kalter Wind uns frieren ließ. Wir suchten im Windschatten Schutz bei einem kleinen Mäuerchen. Ein Mann fand das sehr amüsant, rettete uns und brachte uns die zwei Blocks um die Ecke zu unserer Gastwohnung. Fünf Minuten für ihn, 15 Minuten für uns zu Fuss. Anders aber ebenfalls unendlich hilfsbereit und nett war eine Frau, die mich in SanFran an der Bahnstation aufgelesen und zu meinem Hotel begleitet hatte, weil sie sich sorgen machte, dass ich nicht gut untergekommen sein könnte. Dazwischen all die freundlichen Nachfragen, ob man Hilfe bräuche oder ob es einem wirklich gut ginge. Nein, freundlich sind die Amerikanys sehr. Nicht zu vergessen die zwei Männer, die uns zum Essen bei sich eingeladen haben, nur, weil ich sie bei einer Tour in Mexiko kennengelernt hatte.

Trotzdem diese menschenfeindliche Politik – Obdachlosigkeit

Auf den Straßen von San Franzisco, von Los Angeles leben ganz viele Menschen ohne Obdach. Umständlich erklärte ich Alex und Joan (unseren Gastgebern), dass ich sie in vier Gruppen einteilen würde – zumindest in drei:

  1. Jene, die vagabundieren. Sie haben Reisegebäck dabei, sehen verwahrlost aus, aber sind gut gelaunt. Ein Hund begleitet sie oft.
  2. Jene, die sich aufgegeben haben, überall schlafen, sich einnässen, gefährlich verwahrlost sind und im Müll leben.
  3. Jene, die ein Zelt als Behausung haben und sich damit irgendwie absichern können.
  4. Jene, die gemeinsam in einer Zeltsiedlung leben, mit Planen ganze Siedlungen gebaut haben und wie kleine Gemeinschaften zusammenleben, sogar zumindest über Strom verfügen.

Die letzten zwei Gruppen sind nicht so sehr verschieden, doch gleichzeitig wirkt die dritte Gruppe wie Einzelkämpfer. Die letzte Gruppe erinnert ich an die Menschen in Casablanca, die auf der Müllhalde lebten und sogar Satellitenfernseh hatten. Die erste Gruppe sind jene Menschen, die überall nur liegen, sich nicht bewegen, Fußnägel von 15 cm aufweisen und insgesamt sehr krank und mitgenommen aussehen, der verkrustete Dreck hängt an ihnen. Wenn ich sie sehe, denke ich oft, dass ich wohl nicht genug Mitleid habe, dass wir alle über zu wenig Mitgefühl verfügen. Wie können Menschen so leben müssen? Und das in einem der reichsten Länder, dessen Bewohnys so stolz darauf sind, hier sein zu dürfen? Mich selbst macht all das Elend ratlos und ich frage mich, was für ein Mensch ich bin, wenn ich an all dem möglichst weitläufig vorbeigehe. Nebenher ist meine aktuelle Reiselektüre – es sollte eine andere sein – Harari “Homo Deus“, so dass sich diese Frage, was der Mensch eigentlich für ein Tier ist, der sich erhebt über all das andere Leben, hiermit neu bewertet werden muss. Zugegeben: ich müsste eigentlich den Trafikanten lesen und bekomm mich nicht dazu, diese furchtbar langweilige Lektüre zu lesen – meine armen Schülys.

Nach der ersten Orientierung

Einige Dinge würde ich anders machen, wenn ich ein zweites Mal nach Amerika flöge. Wenn! Es ist nicht so, dass alles furchtbar ist, manches sogar reizvoll, doch wenn ich die Wahl hätte, ein neues Areal zu betreten, würde ich das eher tun. Mir ist Amerika insgesamt zu teuer. Die Preis-Leistungs-Schere zu weit aufgerissen und das mit einer Arroganz, die sich kaum in Worte fassen lässt. Lustig daran ist, dass mir die Menschen hier selbst nicht arrogant vorkommen. Aber wie sollen die meisten von ihnen auch wissen, dass das, was sie für gut oder wertig halten, längst nicht dem Möglichen entspricht?

Von Gewalt hab ich hier bislang sehr wenig erlebt – wie schon in Mexiko nicht. Ich suche den Konflikt aber auch nicht gerade. Was wir hier allerdings haben – exotische Menschen. Viele mit wirklichen Problemen, die psychische Betreuung bräuchten. Verrückte, Sonderlinge, welche, die mit sich selbst sprechen. Jeder kann hier nicht nur so sein, wie er will, er muss es vielleicht auch. Das führt natürlich nicht zu echter Toleranz – was ein Traum wäre – sondern eher zu großer Ignoranz, zu einer Selbstverständlichkeit, nach dem Befinden zu fragen, ohne ein Interesse daran zu haben. Smalltalk eben.

Was nehme ich mit: hilfsbereiter zu sein, mich weniger gleichgültig zu zeigen (was nicht heißt, dass ich gleichgültig war), weniger gestresst reagieren – falls ich das kann. Was ich hierlasse: Vielleicht das Vorurteil, dass die Amerikanys diese Politik verdienen. Obwohl – sie könnten sich auch beginnen zu organisieren. 🙂