Und die Moral von der Geschicht‘ – traue Moralpropheten nicht? – eine sprachphilosophische Betrachtung

Im Deutschkurs befassen wir uns mit der Frage, inwiefern das Denken durch unsere Sprache beeinflusst wird. Natürlich mein Lieblingsthema. Sprache ist Denken und Denken ist Sprache. Unser Sein manifestiert sich durch Sprache. Wenn tatsächlich unser Charakter, unser Verhalten, unsere Persönlichkeit durch die Sprache zur Realität wird – also sich durch die Sprache manifestiert, was bedeutet das dann für unser moralisches Handeln?

Zunächst einmal möchte ich kurz erwähnen, dass viele Sprachwissenschaftler und Sprachphilosophen den Zusammenhang von Sprache und Denken untersucht haben (Whorf, Pinker, Sapir, Bredowski, etc.). So stammt zum Beispiel das folgende Zitat aus „Ich spreche, also bin ich“ von Andreas Gardt von 2019:

„An der identitätsbildenden Kraft der Sprache und des Sprechens führt kein Weg vorbei.“

Kurz erklärt, steckt dahinter die Aussage, dass ich mit jedem Wort zeige, wer ich bin. Die Identität umfasst all das, was mich von jeder anderen Person abhebt. Bezogen auf die Sprache sind das meine Stimmlage, meine Lieblingsphrasen, meine Lieblingssprüche, meine Aussprache, mein Dialekt, mein Wortschatz. All das ist wandelbar. Ich kann zum Beispiel einen Sprachkurs belegen, um meine Aussprache zu verbessern, womit ich sie verändere. Ich kann meine Bildungsinhalte verändern, was meinen Wortschatz vermutlich verändern wird, ich kann neue Sprüche lernen, etc. Natürlich bleibe ich dabei, wer ich bin, im Kern, doch ich verändere mich auch und werde dadurch von außen anders wahrgenommen. In der Regel denken wir darüber natürlich nicht nach, so wie wir auch nicht darüber nachdenken, dass wir uns verändern. Das liegt daran, dass die Veränderungen ein immerwährender Prozess sind; wir verstehen die Welt täglich ein bisschen besser, wir verstehen uns selbst jeden Tag ein bisschen mehr und wir können unsere Bedürfnisse und Gefühle ausdrücken. Mit zunehmenden Erfahrungen verstehen wir auch, womit wir erfolgreicher sind und womit wir erfolgreich(er) sein wollen. Unausweichlich kommen wir an der Sprache und ihrer Magie, unsere Identität zu formen oder zu bilden, nicht vorbei.

Unsere ethische Grundhaltung ist ein Teil unserer Identität, denn wir wollen meistens als gute Menschen, als nette Menschen oder als freundliche Menschen wahrgenommen werden. Nach Kant sollten wir es sogar nicht auf die Absicht ankommen lassen, gut, nett oder freundlich zu erscheinen, denn er erklärt es zur menschlichen Pflicht, dass man so handeln möge, wie man selbst behandelt werden möchte. Da wir jedoch keine Maschinen sind, sondern Menschen, lieber Herr Kant, würde es unsere Welt schon bereichern, wenn wir einfach so handeln würden, dass wir andere mit dem Respekt behandeln, wie wir uns das auch für uns wünschen.

Anatol Stefanowitsch beschreibt in seinem Artikel „Wie Sprache und Moral zusammenhängen“ (2018), dass man nicht nur seine Handlungen nach diesem Muster ausrichten sollte, sondern auch jede Art von Sprechen. Das ist einleuchtend und in Zeiten von „me too“ wissen wir auch genau, dass erst durch eine geschlechterfreundliche Sprache, alle Menschen einbezogen sind, wenn der Fokus auf die Geschlechtlichkeit gelegt ist.1 Wir wissen, weil das von einigen Menschen so geäußert wurde, dass bestimmte Worte als verletzend wahrgenommen werden, dass Worte eine ganze Volksgruppe diskriminieren oder ausgrenzen. So zum Beispiel möchten dunkelhäutige Menschen „Schwarze“ genannt werden, wenn auch das lateinische Wort „negro“ selbige Bedeutung hat und als Bezeichnung vormals verwendet wurde. Doch steht es mir als Mensch zu, zu entscheiden, was für wen verletzend erscheint? Wenn mein Gegenüber mir signalisiert, dass er für sich dort eine Grenze sieht, muss ich diese dann nicht akzeptieren, weil ich selbst wollen würde, dass sie eingehalten wird? Daraus resultiert nicht nur für mich sondern auch für Stefanowitsch die Frage, die ich gern zitieren möchte:

„Diese moralische Position ist eigentlich offensichtlich, wir müssen uns also fragen, warum sie auf deutlich weniger breite Zustimmung trifft als die anderen Beispiele moralisch begründeter Sprachkritik.“ (Stefanowitsch, 2018)

Wenn ich im Ausland bin und mich mit der Landessprache des Besucherlandes quäle, dann wünsche ich mir, dass die Menschen, die diese Sprache beherrschen, langsamer sprechen, einfachere Satzkonstruktionen bilden und den Wortschatz reduzieren. Aber tue ich das selbst? Und: Lässt sich das gar von einer Bevölkerung einfordern? Gehe ich davon aus, dass der Mensch erst dann den anderen in den Blick nimmt, wenn er dessen Problemlage durch eigene Erfahrung kennt, so wird schnell klar, dass ich viele Dinge gar nicht wahrnehmen und damit berücksichtigen kann. Eine Vereinfachung meiner Sprache, um Sprachbarrieren zu umgehen und den anderen teilhaben zu lassen, gestalten sich also als umfangreiches Unternehmen, dass ich erst verstehen muss. Erst wenn ich einen Kinderwagen oder eine Gehhilfe durch die Gegend rollen muss, stelle ich fest, dass Bordsteinkanten eine Herausforderung sind, dass die meisten rollenden Gefährte scheinbar nicht straßenverkehrsgeprüft sind, dass Gehwege zu schmal, zu eng, zu uneben sind. Ich kann mich natürlich auch hinsetzen und darüber nachdenken, was das möglicherweise bedeuten könnte, einen Kinderwagen zu schieben, doch meine Gedanken werden unzulänglich bleiben. Übertrage ich das auf unsere Diskussion um die sprachliche Identität in moralischer Hinsicht, so kann ich zwar erkennen, dass mir basale Erfahrungen fehlen und meine Gedanken nur unzureichend Informationen für ein tieferes Verständnis geben, doch ebenso könnte ich auf die Regel beruhend, dass ich niemand verletzen möchte, darauf vertrauen, dass es mein Gegenüber verletzt, so er dies behauptet. Die Frage von Stefanowitsch hängt noch im Raum: Was hindert uns? Was hindert uns wirklich?

Meiner Ansicht nach, sind wir Menschen nicht in der Lage, dauerhaft Regeln zu befolgen, die wir uns selbst auferlegen und kein Muss darstellen. Es gibt zahlreiche Beispiele, dass der Mensch sich selbst und nicht nur andere wiederholt verletzt: er raucht, trinkt, füttert seinen Körper mit für ihn schlechten Lebensmitteln, nimmt Drogen, schläft zu wenig, isst zu viel, etc. Wäre all das dem Akt der Vernunft allein unterzuordnen, was würden wir alle gesund alt werden! Was könnten wir für eine Entlastung für unser Gesundheitswesen sein.

Moralischen Regeln zu befolgen, gelingt den Menschen ebenso wenig, denn zum einen nutzen sie für sich gedankliche Schlupflöcher wie Definitionen, in denen zum Beispiel „Gott“ damit einverstanden sein müsste, wenn man sich das so auslegt, zum anderen erklären sie einige Regeln für notwendiger und besser als andere Regeln.

Ein Beispiel (mein Lieblingsbeispiel sogar): Du sollst nicht töten! Das steht so deutlich im Koran, in der Bibel und in der Thora – also wird diese Regel maßgeblich von allen drei großen Religionen vertreten (und gefordert, um ins Paradies zu gelangen!). Da steht nicht, dass man Tiere töten darf. Das Argument wird jedoch damit ausgehebelt, dass vom Opfer eines Lammes an anderer Stelle berichtet wird oder, dass der Mensch als Krone der Schöpfung (siehe Genesis) sich die Welt untertan machen soll. Ich als Vegetarierin sehe dieses Schlupfloch nicht und ich kann mich an der Stelle rühmen, ein so guter Mensch zu sein, weil ich das Schlupfloch als solches enttarnt habe und besser lebe. Da gesellt sich das Gefühl dazu, über andere erhaben zu sein. Ich kenne also die Wahrheit, während andere noch im Dunkeln leben. Ein eingefleischter Gläubiger, der auf Lamm, Rind und Fisch nicht verzichten will, wird jedoch genau die Textstellen, die Verse zitieren, die ihn ebenfalls zu einem guten Menschen machen, denn das Opferfest verlangt auch das Opfern von einem Leben. Und auch er wird in seinem Lichte der Wahrheit stehen, während dann, von ihm aus betrachtet, ich im Dunkeln herumdümple: Denn, wie kann ich es wagen, uns Menschen mit den Tieren gleichzusetzen?

Heißt das also, moralisch richtig zu handeln und zu sprechen, hat etwas mit meinen Annahmen zu tun? Die Schwierigkeit eines Perspektivwechsels nach dem Kantischen Prinzip setzt also voraus, dass ich davon ausgehe, dass es keine Wahrheit gibt. Gut, theoretisch wissen wir das schon länger, aber in Wirklichkeit leben wir etwas anderes. Meine Wahrheit nenne ich Grundprinzipien, die selbstverständlich sind, die logisch sind, die allen klar sein müssten. Meine Sprache verschleiert hier, dass es sich wieder nur um Konstrukte handelt, die ich mir schaffe, damit ich für mich moralisch integer bin, für mich und für mein Umfeld, denn von dem Umfeld soll mir widergespiegelt werden, wie ich wünsche, dass man mich sieht. (Ahamkara! Hier sei auf den anderen Blogbeitrag verwiesen.)

Kommen wir kurz auf die Identität zurück – später schere ich bei der Sprache nochmals ein. Ich sehe mich als Mutter, Deutsche (Biodeutsche, denn das scheint noch einmal was anderes zu sein), Frau, Lehrerin, Schriftstellerin, Ruhrpotterin, Europäerin, witzige, unverheiratete, freie, weiße Person. Das alles schafft einen kulturellen auf einen bestimmten Lebensbereich bezogenen Hintergrund. Wie wichtig zum Beispiel meine Herkunft ist, wusste ich erst, als ich 2013/14 in Europa unterwegs war und meine Heimat vermisste. Wenn jetzt alle Deutschen aber wegen ihrer Halsstarrigkeit diskriminiert würden, würde mich das betreffen? Ja, wenn ich mich mit dem Deutschsein identifiziere. Tue ich nicht. Angenommen, Deutsche würden deswegen verfolgt? Dann würde ich sie als meine Brüder und Schwestern schützen. Aber, greift mich das an? Nein. Gerade sagte ich doch, dass ein Teil meiner Identität das Deutschsein sei! Habe ich eine Wahl, mich von dieser Identifikation zu lösen? Und wenn von dieser, kann ich mich dann auch von meinem gesamten Selbstbild, von dem ich will, dass es durch andere mir immer wieder reflektiert wird, lösen? Ich denke, begrenzt geht das, aber meine Stimmlage ist mir genetisch mitgegeben, die kann ich kaum so stark verändern, dass man mich nicht an meiner Stimme wird erkennen könnte. Mein lautlicher Fingerabdruck. Im Kern – so vermute ich – gibt es das auch auf mein Wesen bezogen. Ich kann nur kleine Teile verändern. Und je nach Alter ist das zunehmend mit größerem Aufwand verbunden.

Im Prinzip also müsste doch ein ganz ganz junger Mensch schnell erlernen, was moralisch richtig ist. Falle eins: was ist denn bloß richtig, wenn es keine wirkliche Wahrheit gibt? Falle zwei: wie ist das mit der Genetik? Betrachte ich unser Curriculum für das Fach Praktische Philosophie, sehe ich, dass diese ethischen Grundlagen in allen Jahrgängen thematisch behandelt werden sollten. Diskutiere ich mit Fünftklässlern die Redewendung „Was du nicht willst, das man dir tu, füge auch keinem anderen zu.“, so verstehen sie schon, die Moral von der Geschichte durchaus. Noch in derselben Stunde beleidigt A dann jedoch spontan B, weil B mit dem Stuhl gekippelt hat, falsch geguckt hat, gestern was Blödes zu C gesagt hat oder so zum Spaß (häufige Antwort von beleidigenden Jungen oder Mädchen übrigens),2 natürlich beleidigt B zurück. Das war für A aber zu viel Retour, also wird A handgreiflich und B wehrt sich. Nehmen wir in der Klasse dieses Fallbeispiel, so erfahren wir, dass man sich nicht beleidigen lassen darf, dass man unbedingt zurück beleidigen muss, wegen der Ehre. Auch hab ich schon gehört, dass sei kein gutes Beispiel für die Redewendung oder B nervt einfach und dann kann man nicht anders. Dahinter stecken versteckte Annahmen wie die Absicht zu nerven, zu ärgern, zu empfindlich zu sein oder ähnliches mehr, dahinter steckt das eigene Selbstbildnis, dass es zu verteidigen gilt, dahinter steckt eine kulturelle Prägung, die von den Eltern übernommen wird und erst in der zweiten Phase der Pubertät beginnend (ca. 16-20 Jahre) hinterfragt wird bzw. hinterfragt werden kann. Vielleicht lernen wir erst dann, diese Regel nutzen zu können.

Wenn ich allerdings sehe, welche Politiker unsere Welt lenken, dann denke ich, dass wir längst noch nicht so weit sind, die genetische Anlage des Menschseins zu übersteigen und zu transformieren. Grundsätzlich ist der Mensch in seiner Anlage aggressiv und brutal und will sich und sein Territorium verteidigen, selbst wenn es nichts zu verteidigen gibt. (Zeugnisse: Völkermassenmord, Massentierhaltung, Nationalstolz, Krieg, Zerstörung der Umwelt, etc.). Der Mensch handelt so auf der Basis seiner Gefühle: Neid, Angst, Hass, Missgunst. Unsere Sprache bezeugt unser Sein insofern, als wir diese einfache moralische Sprachregel von Stefanowitsch abgeleitet von Kants moralischen Imperativ nicht umsetzen können, selbst wenn wir ihre Sinnhaftigkeit sogar wünschen. Sie ist vielleicht ein anzustrebendes Ideal. Versuchen? Ja, nur der Versuch macht kluch. Wir wollen ja das Beste in uns und von uns nach Außen zeigen. Doch genauso, wie Videospiele nicht jeden zum Amoklauf treiben und nicht allein dafür verantwortlich sind, dass die Aggression steigt, so lässt sich nicht jeder als Gutmensch kleiden, weil er sprachlich seine Diskriminierungen besser verstecken kann. Die wirkliche Veränderung beginnt weit dahinter, sie beginnt bei der Betonung von Wörtern wie „Schwarzer“, „Mensch mit Einschränkung“ und das beginnt tief hinter der Stirn. Was denke ich über meine (National)Sprache? Was denke ich über Menschen mit Handikaps, mit Deformation, mit sichtbaren und unsichtbaren Makeln? Was denke ich über attraktive, dynamische, erfolgreiche Menschen? Was denke ich über Menschen, die meine Sprache nicht richtig, nicht gut, nicht sicher beherrschen? Was ist für mich typisch deutsch, typisch albanisch, typisch amerikanisch? Welche Vorurteile habe ich? Und wenn ich mich damit auseinandersetze, wenn ich meine Vorurteile als solche Annahmen einer falschen Wahrnehmung entwirre, halte ich mich dann für besser, erfolgreicher, moralischer, richtiger?

Meine Lieben, diese Fallstricke der Moral sind feingesponnen, mögen wir achtsam bleiben und uns sprachlich darin trainieren, uns klarer und freundlicher auszudrücken.


  1. Zu diesem Punkt nach der permanenten Geschlechtlichkeitsfrage ist die „Philosophische Sternstunde“ mit Lisa Eckert sehr zu empfehlen, denn sie stellt deutlich heraus, dass die Geschlechtlichkeit durch das Gendern permanent in den Blickwinkel gerät, wo er nichts zu suchen hat. Das kann ich teilen. Was wir brauchen, wäre eine geschlechtsneutrale Sprache. ↩︎
  2. Bei meinen anonymen Umfragen in Schulklassen kam heraus, dass vor allem Jungen gerne aus Spaß daran, dass sich der andere ärgert, Beleidigungen äußern, den anderen Hänseln und wütend machen. Mädchen tuen das deutlich seltener aus Freude am Ergebnis, aber es kommt vor. Der vermeintlichen Gerechtigkeit willen, habe ich das oben nicht weiter differenziert. Meiner Beobachtung entspricht allerdings auch, dass Jungen deutlich häufiger Scheinkämpfe machen, den anderen körperlich angehen oder ihn beleidigen. Mädchen dagegen berühren sich häufiger freundschaftlich und kümmern sich umeinander. Dieses Klischee wird vor allem von den jüngeren Kindern häufiger bedient. ↩︎

Mexiko — Teil 1. Wir wollen vielleicht doch gute Touristinnen sein.

Nach einigen Tagen findet man sich auch in der größten Großstadt zurecht. Mexiko ist eine Metropole, nicht nur eine Großstadt.  Und eine kleine Herausforderung war es schon, denn es gibt so viele Dinge, die hier anders sind – anders als in Deutschland, anders als in Europa.

Manos solidarias – cuidad de mexico

Gefahr Gefahr Gefahr

Als wir uns für die Reise vorbereiteten, erklärte uns jeder, wie gefährlich diese Stadt und dieses Land und diese Menschen seien. Wir wollen die Gefahr nicht gerade suchen, um zu bestätigen, was so viele behaupten, doch bislang haben wir nur Menschen getroffen, die unglaublich freundlich und hilfsbereit waren. Wir wollen nicht unvorsichtig werden. Uns beschleicht auch schon mal ein komisches Gefühl, wenn wir auf “untouristischen“ Wegen wandeln.

Dann passiert das: Vorhin (5.7.22) standen wir völlig orientierungslos am Gleis – direkt aus der U-Bahn hinausgequetscht -, als ein Mann mitbekam, was wir suchten und uns kurzerhand ganz ohne Aufforderung zu unserem Zwischenziel brachte und sich von uns freundlich verabschiedete. Kein Propina (Trinkgeld), kein lästiges Gequassel, einfach freundlich. 

Mexikaner und Schuhe 

Überhaupt zeigt sich diese Stadt anders, als erwartet: Erstens sehr viel touristischer (keine Ahnung, weshalb ich das nicht kommen sah); zweitens weniger heiß; drittens haben die Städter hier ein hohes Sauberkeitsbedürfnis (was bei dem Schmuddellock nicht ersichtlich war). Hier werden nicht nur die Straßen, Hauswände, Läden regelmäßig geschrubbt, sondern vor allem die Schuhe.

Erst ein neugieriger Blick ins Gesicht, gefolgt vom Blick zu den Schuhen, dann ein abschätziger Blick zurück ins Gesicht. Schuhe sind hier sauber und glänzen. Der Schuh verrät, wer du bist – so informierte uns Gabrielle, eine Reiseführerin. Das erklärt auch, wieso so viele Schuhputzer mit einer akribischen Ernsthaftigkeit dem Schuh zu Leibe rücken. Ein ehrbarer Beruf. Diondras Schuhe waren immer besonders dreckig, staubig und einfach pfui. Ergo hab ich sie auf den Thron gesetzt und den Meister Jonathan aus meiner Tochter wieder einen ansehnlichen Menschen machen lassen. Wie so viele andere Tätigkeiten, die hier auf der Straße stattfinden, so auch das tägliche Schuhputzen.

Und der Vollständigkeit halber: betritt man ein Lokal, ein Geschäft oder ein Museum, so sind immer so kleine Fußnäpfchen dort, die wir als Europäer natürlich nicht kaputt machen wollten und geschickt umschifften. Wer tritt schon freiwillig in ein Fettnäpfchen. Alles falsch, man tritt mit den Füssen in die Wasserpfütze, dann auf den ersten und schließlich auf den zweiten Lappen. Je mehr Schuhreinigungsoptionen, desto wertiger, aber mehr als drei Stellen habe ich noch nicht gesehen.

Schlange stehen – so britisch

Vielleicht auch deswegen stehen die Mexikanys gerne Schlange. Überall und auf besondere Weise. Für den Bus stellen sie sich sauber auf und warten, bis sie dran kommen. Plötzlich geht die Tür zu und der Bus fährt weiter, obwohl die Schlange nicht abgearbeitet ist. Das ärgert hier niemanden, denn schon 2 Minuten später steht ein neuer Bus dort, der auch nur eine für ihn angenehme Anzahl an Fahrgästen auflest.

1. Schleuse mit Sicherheitskräften an der U-Bahn

U-Bahn, noch so ein Ding: Erst wird man sehr lange Wege unterirdisch geschickt, so dass wir schon befürchteten, ausgetunnelt worden zu sein. Dann wird man an schleusenähnlichen Toren eingesammelt wie Fische im Netz. Damit nicht alle Passagiere ziellos am Gleis herumlungern, hat man auch hier zu tun, vermuten wir. Sicherheitskräfte öffnen die riesige Tore und lassen eine bestimmte Anzahl an Personen durch.

Diese werden vor dem nächsten großen Tor abgefangen. Zum Schluss am Gleis angekommen, folgt ein Einweiser, der alle Fahrgäste anhält, vor allen möglichen Zugängen zur Bahn stehen zu bleiben (wir könnten so viele sinnvolle Jobs generieren, für die man wirklich keine Ausbildung braucht). Die Bahn fährt ein. Oh, schon voll. Macht nichts, man wird noch mit hineingeschoben und klebt nun als Sardine zwischen all den freundlichen Mexikanys. Ob da nichts mehr geht? Wir probieren es. Vielleicht ist das für manche die Möglichkeit, Kuscheleinheiten zu bekommen, denke ich im Stillen. 

Aber das mit der Schlange ist wirklich so ein Lieblingsding, denn überall begegnet uns das Phänomen. Wir stehen ordentlich Schlange, um unser Gepäck zurück zu bekommen. Gewissenhaft – hier wird alles gewissenhaft gemacht – nimmt der Gepäckmann unser Zettelchen mit der Gepäcknummer entgegen, nachdem er vorher alle hat Schlange stehen lassen und alle Gepäckstücke in Reih und Glied sortiert hat. In Deutschland käme man vielleicht auf die Idee, auf sein Gepäck zu zustürmen, es dem Gepäckmann zu entreißen. Hier nicht. Er sucht es aus den Möglichkeiten aufgrund der Zahl heraus, wenn man an der Reihe ist. 

Bei jeder Gelegenheit stehen die Mexikanys vor jedem Museum, vor jeder Toilette gelassen in einer Reihe. Dazwischen werden wir Wartenden unterhalten mit hübschen fliegenden Plastikvögeln; mit zwei Metallkugeln an einer Schnur, die man ganz toll aneinander schlagen kann; mit lärmproduzierenden Mundpfeifen, die klingen, als ob kranke Adler kreischen. Wir freuen uns auf unsere nächste Schlange. 

Tourismus und sein Tand

Ausschnitt einer langen Straße in Oaxaca auf dem Marktplatz

Nicht nur für die Touristen gibt es an jeder Ecke Schund und Tand zu kaufen, sondern auch für die Mexikanerinnen und Mexikaner selbst wird das Zeug überall angeboten. Man könnte denken, sie ersticken in den Glitzertäschen, den Regenbogenfarbenen Äffchen für den Kopf oder dem ganzen Zuckerzeug für jede Gelegenheit. Aber nein, scheinbar gibt es gar nicht genug von all dem.

Für die Touristen regnet es an jeder Ecke zusätzlichen Schnickschnack wie Aztekenmasken, Marienbildchen, Hüte, Edelsteine, Mayaschmuck, Schale und Tücher mit Stickereien, Körbe und irgendwelche lärmmachenden Dinge, die man wirklich nicht braucht. Aber, wenn man nicht will, lassen sie einen direkt in Ruhe und nehmen es sehr selten übel, dass man nichts kaufen will. 

Wir sind manchmal willig. Ich zumindest war wirklich beeindruckt von der Obsidianerklärung. Man kann durch dieses Gestein in die Sonne sehen und das ist ein faszinierender Anblick, wo der Stein doch selbst so schwarz ist. Da hab ich mich hinreißen lassen und für Elias und für Martin was gekauft. Kleidung haben wir auch gekauft – aber nicht so ganz touristisch, nichts im Indianerstil (sagt man das noch?). Meist prallt dieser Kaufdrang an uns ab. Essen ja, aber dieser ganze Touri-Kitsch?

Banjos – Sanitäre Anlagen – für Mujertas

5 Pesos oder 10 Pesos muss man dafür schon mal lassen, dass wir Frauen Wasser lassen dürfen. Gut, Männer auch, aber nur Frauen sehe ich so regelmäßig auf die Toilette zusteuern. Zunächst mal bedeutet das, dass man irgendwie immer diese Münzen parat haben muss, also wirklich als Münze, denn die werden in den Apparat eingeworfen, damit man das Drehkreuz passieren kann. 

Durch das Kreuz durch muss man sofort nach Papel Ausschau halten, denn die gibt es selten in den Kabinen. Meist hängt ein Spender davor oder eine Frau oder ein Mann reichen dir eine Anzahl von Papier, welches du dann benutzen darfst. Wichtig: Wie in China wird auch hier das Papier nach dem Betupfen (Abtrocknen) der Vulva in einen Papierkorb entsorgt. Auf keinen Fall in die Schüssel werfen. 

Apropos Schüssel: Die ist sehr niedrig mit festem Sitz oder auch gar nicht, nur das blanke Porzellan. Darin steht tief das Wasser. Schlanke sind hier im Vorteil, denn dann spritzt das Wasser-Urin-Gemisch am Bauch vorbei. Ich halte inzwischen immer ein Stück meines heiligen Papiers vor die Öffnung, damit ich nicht alles andere nass mache. Vermutlich mach ich das einfach falsch. 

Sprache eins – Sprache zwei  und immer nur Übersetzen

Die Mexikanys sprechen schnell, stehen den Spanierys in nichts nach und dann ist Englisch nicht immer die sichere Verkehrssprache. Verwuschelt. Englisch sprechen hier nicht alle. Wir radebrechen uns was auf Englisch und Spanisch zusammen. Die Mexikanys sind ja schon dankbar – wie alle anderen auch – wenn man sich bemüht. Da sie ja sehr sehr freundlich sind (siehe oben), helfen sie, wo es geht. Und Google ist auch hier unser Freund, wir übersetzen uns das Nötige zusammen. Manchmal eben auch über die Bande, nämlich über den Umweg Englisch. Mir rauscht dann manchmal so der Kopf, weil ich mir das komische Spanisch ins merkwürdige Englisch übersetze und dann wieder ins Deutsche. Puh. Ich wünschte, ich könnte auch so beeindruckt sein wie David, eine Reisebekanntschaft, der meinte, dass die Deutschys ja in den Schulen drei Sprachen lernen. Er hat mir auch erklärt, dass in Amerika in einigen Schulen sogar sehr gerne Deutsch gelernt wird, weil die Amerikaner in dem kleinen Deutschland tatsächlich ein Land mit Zukunft sehen. Tja, was nützen mir die Sprachen, die ich gelernt habe, wenn ich doch zu wenig flüssig Vokabeln kann. 

Außerdem als lustiger Spaß nebenbei hab ich aktuell eher die italienische Vokabel parat. Was hab ich nach „caliente“ gesucht und nur „caldo“ gefunden! Bis mir ein freundlicher Mexikaner auf Englisch erklärte, dass Caldo doch im Spanischen was anderes sei (Cloud meine ich). Das war wirklich witzig. So langsam reaktiviere ich die spanischen Wörter und kann das ein oder andere flüssig bestellen, kann bezahlen ohne Peinlichkeiten, aber mir persönlich fehlt das Gefühl, sprechen zu können. Ich will mich doch ausdrücken und nicht nur fehlerfrei einen Satz sagen. Wie oft ich mitleidig angesehen werde, wenn ich sage „sin carne“ und ich einfach nicht verstanden werde. Ich meine, erst verstehen sie mich nicht, dann verstehen sie mich auch nicht, wenn die Bedeutung endlich klar geworden ist und das mitleidige Gesicht bleibt. Ebenso wie die Frage: Pollo? No Pollo? Als wäre Hühnchen kein Fleisch.

Essen – Ein Fest?

Für wen? Als wir uns in dieses Land aufmachten, da dachte ich, dass ich hier lecker Essen bekäme. Klar. Mais und Bohnen, aber sonst?

1. Frühstück in Mexiko auf der Straße

Mais ist mein Problem nicht, Bohnenmatsche schon, zugegeben. Aber so richtig problematisch ist, dass hier wirklich alles mit Fleisch ist. Garküchen überall, doch vegetarisch ist wirklich ein Fremdwort. Auf den Touristenfahrten dann für Büffet so viel zu zahlen wie die Fleischer, die drei Mal so viel Auswahl hatten, ist ärgerlich. Nein, hier bemüht man sich nicht, etwas für die Vegetarys zu tun. Wieso auch, die sind einfach nur zu bedauern. Also wenigstens Hühnchen oder Fisch müssten wir doch essen. Gar nicht? Naja, also der Salat und der Nachtisch sind auf jeden Fall vegetarisch, und die Suppe. Reis geht auch noch. Fertig. Hmm, lecker. Einmal gab es tatsächlich zwei Gemüsespieße mit Avocadodipp. Auch nett. Enschaladas werden hier in Soße ertränkt. Selbst, wenn die Pfannkuchen mit Käsefüllung und Pilzen geschmacklich durchgehen, die Soße vernichtet den Eindruck. Es gibt hier zwei typische Soßen: eine mit Schokolade, scharf und irgendwie Erdnuss oder so und die andere „richtig scharfe grüne“ Soße. 

Auf der Straße gibt es viele kleine Garküchen, in denen Tacos zubereitet werden. Aber auch sonst bekommt man ganz viel an kleinen Ständen zu kaufen. Obst, Maiskolben, kleine Küchlein, Nüsse in klebriger Substanz, bunter Zucker am Stil. Auf frisch geschnittenes Obst kommt noch einmal eine Ladung roter Zuckerschnee, dann noch eine klebrige süße Fruchtsoße, die die sehr süßen Mangos, Wassermelonestücke und Ananas noch süßer machen.

Und an allem wird Lemone gequetscht. Ich sag ja, richtig süß, richtig sauer oder richtig scharf. Die Mexikanys brauchen es eindeutig. 

Auf der zweiten Touristenfahrt erklärte mir dann ein Texaner, dass ich als Deutsche ja wirklich leiden müsste, wo wir so gutes Bier und so gutes Essen haben. Tue ich, tue ich. 

Heute waren wir indisch essen. Das war wirklich lecker. Nicht wie in Deutschland – natürlich nicht – aber es war gut. Der Inder war auch gleich ein reines vegetarisches Restaurant. Endlich mal keine mitleidigen Gesichter, weil wir kein Fleisch essen wollen. Was ich wirklich liebe, all die vielen frischen Säfte und das frische Obst – selbst, wenn es nicht überall gleichermaßen lecker ist. 

Die Geschichte – dafür müsste man die Sprache können

Hier ist alles so spanisch ausgerichtet, dass man eigentlich nur dann was von einem Besuch hat, wenn man die Sprache flüssig spricht und liest. Das ist ein kleines Problem. In Europa sind wir verwöhnt, wenn wir neben der englischen Übersetzung noch eine in deutsch oder französisch finden. Hier ist man nicht mal auf einen zweite Sprache eingestellt. Verständlich, weil doch Spanisch die am häufigsten gesprochene Sprache ist und alle Tourstys sie verstehen. Wir eben nicht so sehr.

Vor allem die Historie betrifft dies, oder der Besuch von archäologischen Ausgrabungsstätten oder Museen. Ja, das ist eigentlich interessant. Für mich sogar der Hauptgrund für die Wahl dieses Landes. Tatsächlich wäre eine gute Dokumentation darüber aufschlussreicher. Allerdings haben wir auch davon keine gefunden. Das ein oder andere verstehen wir durch die zwei Sprachen hindurch schon.

Wandmalerei im Schloss Chapultepec, heute ein historisches Museum, Ciudad de Mexico
Santa Maria Tonantzintla in Cholula steht nicht nur auf einem Hügel, sondern steht auf der Spitze einer 65 m hohen Pyramide (eine der größten Amerikas)

Die Indios waren brutal und die Christen waren brutal. Die Indios hielten die Christen für verrückt, weil sie die Wahrheit in Büchern suchten – bzw. Gott. Gesiegt haben die Christen, haben die Indios unterworfen und entweder abgeschlachtet oder zu Christen bekehrt. Und Christen sind die Mexikanys gute geworden. In Puebla soll es 365 Kirchen geben, eine pompöser als die andere. Frech auch auf die größte Tempelanlage einfach eine Kirche auf die Spitze zu bauen, statt die gesamte Pyramide aus 7 Etagen abzutragen.

Tiefer eindringen kann ich allerdings nicht. Ja, ich verstehe, dass die Christen – Männer, Soldaten – einsam waren und schon deswegen um die Frauen der Indios kämpfen mussten. Raub der Sabinerinnen … es muss sich zwischen Menschen alles wiederholen, bis zum Exidos. Und daraus lernen wir nicht. 

Aber mehr als vorher weiß ich nicht. Mein Mitleid ist gestiegen. Und wenn ich die Mexikanys so ansehe, dann ist daraus auch ein ganz eigener Menschenschlag geworden.  Bildsprache, das erkennen wir ziemlich früh, ist in dieser Kultur präsent, wenn die Busstationen bebildert sind, um sie leichter erkennbar zu machen. Nicht nur für die Touristys hilfreich, denn in einem Doppeldeckerbus ist ein auf einer Stange aufgesetztes Bild von Ferne leichter zu erkennen als ein Bushaltestellenname auf Augenhöhe.

Wer weiß, wofür es gut war.