Unten? — Feddich!

Der erste Teil – der im Stollen spielt – ist fertig. Den habe ich vor ein paar Tagen mit 356 Manuskriptseiten abgeschlossen (82.000 Wörter). Die Story steht. Die Figuren müssen noch klarer umrissen werden, da bin ich nicht zufrieden mit. Mit dem zweiten Gang werde ich aus den Figuren Charaktere formen und deutlicher in ihren Geflechten darstellen. Manche schwimmen etwas in andere hinein. Im dritten Gang dann 10 % raus und dann kann ich das anderen Menschen zu lesen zumuten.

Jetzt bin ich an „oben“. Die Geschichte muss raus.

Ich setzte mich genauso unvoreingenommen daran wie an den ersten Teil. Den wollte ich aus der Sicht von Anna schreiben. Reizvoll in den Kopf des anderen zu sehen: Wir hören die Gedanken von Jacek zu Anna und wir hören die Gedanken von Anna zu Jacek. Wichtiger noch, wir können zusehen, wie beide sich in einem „nicht mehr ganz so ehrlich zu einander“ verstricken, in der Annahme, der andere bekommt das nicht mit und gleichzeitig fühlen sich beide betrogen, weil sie natürlich mitbekommen, wenn der andere lügt. Darüber reden beide nicht und es kommt zu einer Entfremdung, begünstigt durch die Umstände.

Nun setzte ich mich also auf Annas Platz. Meine größte Sorge: Gleicher Stil, indifferenter Einheitsmatsch. Aber ich fand etwas schon nach den ersten Sätzen, wieder so ganz unterwegs:

Anna schreibt im Bericht-Stil und im Präsens. Alles was sie erlebt und was sie fühlt, wird von ihr formal berichtet – für ein zukünftiges gebildetes Publikum.

Durch den Tempuswechsel ist es nicht nur ein eigener Stil, es ist auch absolut stimmig, weil die Mann-Ära zu Ende geht (zunächst einmal – also so in etwa zumindest) und damit Vergangenheit ist, selbst die wenigen Exemplare können das nicht reißen und, weil die Frauen-Ära aufsteigt, jetzt aktuell.

WOW – und das so ungeplant.

Während ich daran gearbeitet habe, musste der Autorenwelt-Newsletter ins Mailfach flattern. Ich hab einfach mal wieder reingesehen, ob da doch mal was interessantes drinsteht. Und ich fand eine Ausschreibung vom Verein Lesezeichen e.V., mit der ich die Tragfähigkeit meiner Geschichte an einem kleinen Beispiel testen könnte. Sie suchen kleine Romanideen von Autoren, die noch kein Debüt hatten. 150 MS (Manuskriptseiten) soll der nicht überschreiten. Ich dachte, wenn ich die Geschichte von Pierre erzähle, sind die 150 Seiten locker voll. Ich kann die Bühne ausprobieren, die Figuren einführen, zumindest Paul, Jacek und Anna. Ich kann die Antagonisten testen – die Uturistinnen – und ich kann schauen, ob mein Stil ankommt.

Die Leseprobe, das Exposé, eine Kurzvita, meine Veröffentlichungen – mehr braucht es nicht. Die Prämisse in das Exposé? Ja, was genau ist das eigentlich? Ich habe mir das immer mit der „Was wäre, wenn?“-Frage gemerkt. Noch besser aber: Die Moral von der Geschichte oder die Lehre hinter dem Ganzen. Was will der Autor dem Leser oder der Leserin völlig verklausuliert mitgeben?

Da saß ich nun mit Pierre. Schöne Dinge, die ihm da passieren und die spannend sind, aber was will ich dem Leser sagen? Da hab ich doch echt lange drüber nachdenken müssen. Getz hab ich die Prämisse: Wenn man immer gegen was anläuft, tut eben der Kopf weh. Also … in diesem Sinne – ich begeb‘ mich auf’s Laufradle.

Noch eine Teststrecke von vier lieben netten Menschen und dann geht es auf Reise.

Bin am Werk drane – Teil II

Das seitenweise Runterschreiben gelingt mir nicht. Ich stelle fest, dass hier und da Recherche für den weiteren Verlauf wichtig und nötig ist. Oder ich spring zurück, weil ich an diversen anderen Tagen noch was einbauen muss. Einmal hab ich nur einen Handlungsstrang in den Rest integriert und durchgeplotet.

Zur Romanstruktur: Die Tage sind gezählt, die unsere Helden im Stollen verbringen (Unten) und was währenddessen in der Stadt passiert (Oben). Diese Tage dienen der linearen Orientierung. Damit ich die Orientierung nicht verliere und nicht so viel Zeit mit Suchen verbringen muss, wann was genau vorher oder nachher passiert ist, habe ich mir eine tabellarische Übersicht wie ein Kalenderblatt mit 90 Feldern (für drei Monate) aufgehängt. Damit ich also weiß, ab wann im Stollen von wem Brot gebacken wird, ist das an Tag 4 auf einem blauen Zettel (Farbe = Ort) vermerkt. Das erlaubt mir die Wochentag im Blick zu behalten, So kann ich sie abzählen. Das wiederum erlaubt mir, zyklische Abläufe zu koordinieren und damit kann ich zurückspringen und kleinere Handlungsstränge geschickt einflechten, ohne nochmals alles umzustricken zu müssen. Hier ein Beispiel:

Einer der Handlungsstränge, denn ich erst im Nachhinein untergebracht hatte, obwohl ich ihn schon ganz am Anfang im Kopf hatte, war die „Warten auf Godot„- Sequenz. Wenn wir einen Querschnitt an Menschen annehmen können, dann haben wir eine deutlich geringere aber doch vorhandene Zahl an Intellektuellen, denen das Theater fehlen wird, wenn es lange ausbleibt. Naheliegend ist, dass sie selbst ein Theaterstück inszenieren, wenn die Langeweile groß genug ist. Allerdings musste ich erstmal schauen, wann dieser Zeitpunkt denn kommt. Auch, wie lang die Handlung danach noch im Stollen stattfinden würde. Ich wollte, dass dieses Theaterstück den Höhepunkt des Wartens und der Langeweile von UNTEN markiert. Danach dreht die Handlung nämlich und wir haben eine große Beschleunigung bis zur Katastrophe und dem Ende. Als ich den Moment der Aufführung absehen konnte, konnte ich auch die Handlung dafür einführen. Aber auch die Vorbedingungen, die eine Inszenierung unter so vielen verschiedenen Menschen erst ermöglicht.

Das Theaterstück von Beckett habe ich vorher nicht gesehen. Ich wusste davon nur, was allgemein über das absurde Theaterstück bekannt ist: Man wartet auf jemanden, der nicht kommt. Daher stammt die Redewendung, die ich gerne nutze, wenn das Warten sinnlos ist. Wenngleich Warten für die meisten Menschen die unangenehmste Beschäftigung in der Lebenszeit ist, so ist es eine, der wir nicht ausweichen können und die viel Raum einnimmt. Auf irgendwas warten wir immer: Auf Normalität, auf den Postboten, auf Nachrichten, auf das Ende, auf den Anfang, auf die Liebe, auf die Erfüllung, auf Ruhe, auf Aufregung. Immer zeichnet das Warten aus, dass wir nicht im Hier und Jetzt verweilen. Die Menschen im Stollen warten auch, mit Langeweile und sinnlosen Taten. Und das Warten dachte ich, könnte mit dem Theaterstück über das Warten ein Ende finden, wenn auch nicht das geplante Ende mit dem Erfolg, dass das, worauf alle gewartet haben, eintritt. In dem Zuge suchte ich passende Zitate und passende Handlungselemente aus dem Beckett-Text, mit dem ich mich vorher nicht befasst hatte. Dann folgt das Wunder, dass ich schon öfters erlebte: Meine Intuition (also dieses fragil vage Gefühl) hat mich an die klarste Wasserstelle geführt. Ich habe so sehr passende Zitate gefunden, dass man denken könnte, ich suchte eine passende Geschichte für die Zitate.

Ein Beispiel: Immer versucht, immer gescheitert, egal, versuch‘ es wieder, scheitere erneut, scheitere besser.
– https://gutezitate.com/autor/samuel-beckett

Das war nicht einmal das Beste. Das hebe ich mir auf. Dieses Wunder ist der Grund, dass mir das Schreiben so viel Spaß macht. Ich setze mich mit Dingen auseinander, wie ich es sonst nicht täte und es macht mich glücklich.

Die Handlungsstränge von UNTEN und OBEN unterscheiden sich, ebenso die Positionen der Protagonisten … Mein Leitgedanke auch bei den Figuren:

Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Anonymus – den Marx und Egels waren es nicht.