Eine Woche Tango-Flow, Tango-Gedanken, Tango-Takte in Krummendeich – ohne Ablenkung

Tango bedeutet: es gibt einen Führenden und einen Folgenden – geschlechtlich in allen Kombinationen denkbar, denn nach dem Mythos seiner Entstehung lernten Männer von Männern in Hinterhöfen die Tangoschritte, während Frauen es Frauen beibrachten, wie man so richtig auf die Schritte reagierte. Der oder die Führende bietet dabei den nächsten Schritt an, der oder die Folgende folgt der Einladung, so, wie er sie eben versteht! Es gibt Regeln, damit die oder der Folgende versteht, was der oder die Führende anbietet. Ein Dialog wird es, wenn eine Person auf die andere reagiert, wenn beide dafür sorgen, dass es sich gut anfühlt.

Wichtig dafür sind folgende Regeln. Bitte beachten Sie:

  • Lektion 1: es gibt keine falschen Schritte, es gibt nur welche, die vielleicht nicht intendiert waren.
  • Lektion 2: die Musik gibt den Rhythmus vor, das vertanzen erfolgt durch das Paar.
  • Lektion 3: Die geführte Person macht mit: sie geht selbst, dreht selbst. Und die führende Person schubst, schiebt oder drückt nicht.

Das Führen beinhaltet die anstrengende Dimension von Planung und Verwirklichung im Raum. Wenn noch ganz viele andere dasselbe mehr oder weniger berechenbar tun, lässt sich das Gestalten des Dialogs schwerer realisieren. Gestalten kann ich es allerdings nur, wenn es mir „erlaubt“ wird, wenn ich dafür nicht bestraft werde. Natürlich merke ich, wenn es mein Gegenüber aus dem Konzept bringt. Doch wie geht er damit um? Von Schweißausbruch bis Unterbrechung des Tanzes ist alles möglich, wie ich festgestellt habe. Spielereien, gewagte Verzierungen, Unterbrechungen der Schrittfolge und Übernahme der Führung bringe ich in unseren Dialog erst ein, wenn ich einmal oder ein paar Mal mit demselben getanzt habe.

Führen – auf zwei Arten

Tangotanzpaar aus Argentinien in Werl zu Gast (2024)

Zwei Arten von Tangueros bevölkern die Tanzfläche, dazwischen gibt es weiche und harte Konturen, selbstredend. Schon lange gehe ich davon aus, dass die Art, wie wir tanzen, oder präziser, wie wir uns tänzerisch ausdrücken, viel über uns selbst aussagt. Paare und einzelne Menschen könnte man über das Tangotanzen therapieren, vielleicht sogar heilen! Natürlich erfahre ich einiges über den Herren mit dem offenen oder geschlossenen Knopfloch, schließlich starre ich auf seine halb unter dem Hemd verschwundene Kette oder jenen Anhänger, starre auf seine kleinen grauen Haare auf der Brust, die sich mühselig am Hemd vorbei hervorschieben, oder auf kleine Dinosaurier auf dem Hemd, um ordentlich bei ihm zu bleiben, vor ihm zu bleiben, mit ihm zu sein.
Es gibt Tänzer, die haben eine Führung wie ein Stakkato, ruckartig und zackig, kraftvoll, schwungvoll und manchmal auch unbarmherzig. Hier ist Führung haben ganz wichtig. Zack, hängst du an der Brust des Fremden und er führt. Es gibt aber auch die weiche, zarte Führung, die kaum zu bemerken ist, wo ich mich frage, was ich machen soll. Das Ideal ist die Führung, die ganz weich bleibt und doch fühlt man sich so sicher wie auf einem Schiff auf offener See. Der Herr macht fast unsichtbare Bewegungen, aber eindeutige, die genau interpretierbar sind. Leicht wie eine Feder, jede Bewegung ist kontrolliert. Wenn man eng mit diesem Herren tanzt, dann ist es die eigene Entscheidung und fügt sich dynamisch als Angebot in den Tanz ein. Und dann gibt es die Führung, bei der man weiß, dass man sich auf offener See befindet, vermutlich ist da der Herr der Rettungsring …

Meine schönsten Tango-Momente in diesem Jahr in Krummendeich

1. Ein Tanz mit meinem Angstgegner, den ich nicht nur souverän meisterte, sondern dem ich viel Freude und experimentellen Spaß abgewinnen konnte. Bis zu dem Moment, als ich sagen durfte: „Das hab ich gar nicht geführt!“
2. Mehrere sehr experimentelle Tänze, die nicht nur uns beiden Spaß gemacht haben, sondern auch ohne Achsbruch oder Achsverlust (für die nicht-tangoaffinen Lesenden) verliefen.
3. Das Kompliment eines Tänzers nach der Woche, dass er nicht nur genossen hat, mit mir zu tanzen (wie ich im übrigen auch mit ihm), sondern dass er etwas mitnimmt insbesondere aus den Tänzen mit mir, nämlich die Experimentierfreude. Außerdem hat er erklärt, dass ihm besonders gefällt, dass ich so dabei bin beim Tanz, dass ich ihn vor Karambolage mit anderen Paaren bewahrte, dass ich gezielt und dezent die Führung übernahm und ihn das nicht störte.
4. Mit vielen wirklich guten Tänzern sehr häufig getanzt zu haben. Ich tanze auch mit Tanguero Nr. 1, den es verrückt macht, wenn ich Zwischenschritte setze, wenn ich verziere und er es mitbekommt, wenn ich die Barridas nutze, um Taktspielchen zu machen, etc. und beherrsche mich dann. Freude, Tangospaß und Lust am Tanzen macht mit Tanguero Nr. 2: Raum für Spielereien, Geduld und Mitspiel, Grenzen ausloten im Rahmen der Regeln und schauen, was sich gut anfühlt. Davon gab es diesmal richtig viele, acht würde ich meinen.

Resümee zu Krummendeich 2024

Im Tanzkurs übt man das Ideal, auf der Tanzfläche bei einer Milonga ist alles möglich. Es ist ein Dialog. Wieso sollte ein Dialog etwas sein, wobei der eine immer nur eine Frage stellt, und der andere nur mit vorgegebenen Antworten reagiert? Tango, dass ist ein improvisierter Tanz nach Regeln der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Vor einem Jahr tanzte ich mit R. zum ersten Mal in Krummendeich bei Isabella und Ivan. Anfänger hörte ich. Ich ahnte Schlimmes, doch mein Tanzpartner hatte die Lust am Tango entdeckt wie ein staunendes Kind. Er probierte aus und schaute, was passierte, wenn man den Schritt so oder so machte. Und ich probierte mit. Ich schaute, was ich alles machen kann, ohne das Folgen ganz zu lassen. Es war eine Befreiung, die sich über ein Jahr hinzog. Auf Spiekeroog tanzten wir zum Jahresbeginn erneut zusammen. Mein neuer Erkenntnisgewinn: ich muss nicht nach der Führungsabsicht suchen und im Trüben herumstochern, es genügt, wenn ich tanze, was ich verstehe. Klingt ganz leicht, ist aber mental mehr Arbeit, als der Herr vielleicht denkt. Zurück in diesem Jahr Krummendeich stellte ich fest – solange ich nicht darüber nachdachte und meinen Kopf verbog, was jetzt wieder mein Problem sei – dass mir viel egaler als sonst war, ob der Führende sich vollends verstanden sah, solange wir nur beide unseren Spaß hatten.

Was ist denn nun Krummendeich und Spiekeroog (vermutlich auch Proitzer Mühle)?

Erfurt: Straßeneck-Graffiti

Krummendeich ist ein sehr familiäres Tangoerleben, mit wenig Ablenkung konzentriert auf den Tangofortschritt. Täglich tanzen wir ca. 6 Stunden Tango, mit einem Ruhetag dazwischen. Leckeres Essen (vegetarisch und urgesund) gibt es zwischendurch. Alles vor Ort mit einem schönen Tanzraum und toller Akustik. Diesmal waren wir ca. 40 Personen, die sich nach den sechs Tagen richtig gut kennengelernt haben. Sport und Körper stehen im Fokus: morgens Wachwerdbewegungen mit Yoga, um 10 Uhr ein Warm-up für den Körper zur Bewegungsvorbereitung, dann 1,5 Stunden Kurs, um 16.30 nochmals zwei Stunden Praktika und abends ab 21 Uhr Milonga bis niemand mehr tanzt.
Spiekeroog hat ein ähnliches Konzept: Schwerpunkt Tango ohne Ablenkung, viel Ruhe und Natur, doch das ist im Vergleich die selbstversorgende XXXL-Version, denn die auch täglichen Milongas erlauben höchstens das Briefmarkentangotanzen. Und: Ivan legt bessere Musik auf.

Wieder hin? Ja, nächstes Jahr im Juli 2025 hab ich die Termine schon gebucht. Wer weiß, was sich bis dahin bewegt hat.

Mein Künstlername lautet Scarlett H Mirro. – Wie komme ich zu diesem Künstlernamen?

Vor langer langer Zeit saß ich in meinem Studentenzimmer (so um 1995) und dachte, es sei an der Zeit für einen Künstlernamen. Im Kafka-Seminar hatten wir gerade darüber gesprochen, dass eine historische Figur mit Namen Franz Kafka nicht identisch ist mit dem Schriftsteller Franz Kafka. Die private Person Kafka umfasst mehr als das, was er geschrieben hat und doch deuten wir heute viele seiner Texte hinsichtlich seiner Privatheit. Darüber hinaus allerdings war Kafka jemand, der mit den Worten, mit der Sprache rang, darüber hinaus war er jemand, der sein Schreiben reflektierte und der wie kein anderer verstand, systemische Ohnmacht auch sprachlich abzubilden. Das ist mehr als sein Problem, Sohn zu sein und als solcher vor seinen eigenen Augen versagt zu haben. Ich wollte damals vor allem mein privates Sein von meinem künstlerischen Sein trennen, denn ich dachte damals noch, dass die Welt auf meine Texte wartete und ich unbedingt berühmt werde. Mein Privatleben war meines, meine Künstlerrolle war öffentlich. Also suchte ich nach einem passenden Wort. Ich spielte mit diversen Wörtern, unter anderem fand ich das Wort „Mirror“ reizvoll. Schwer in der Aussprache, hart als deutsches Wort rückwärts gelesen „Rorrim“, aber das war es noch nicht. Mirror war mir zu platt. Die Idee von Spiegel, sich oder etwas widerspiegeln und verzerren mag ich, auch wenn ich diese Selfi-Welt und das sich vor der Kamera produzieren, wie das heute stattfindet, wirklich ablehne. Aber auch das steckt im Spiegel, die Reflexion der Oberfläche.

Die nächste Zutat war, dass ich ja einen Künstlernamen suchte, also könnte ich ja auch bei Künstlern suchen. Der Künstler Joan Miró macht abstrakte, farbenfrohe Bilder. Diese Kunst mag ich. Damit war ich schon sehr dicht an „Mirror“ dran. Da ich den Namen ja nicht kopieren wollte, hab ich einfach von Mirror das R weggelassen. Wie dicht ich mit meinem Schreiben an diese bunte, schräge, vieldeutbare Kunst heranreiche, war mir damals weniger bewusst als heute. Wenn ich an mein Erstling „Die Lehre von der Chaotologie“ denke, dann steht dieser Text einem Bild wie „Karneval des Harlekin“ (1934) von Miró in nichts nach.

Die literarische Vorlage für meinen privaten Vornamen ist Scarlett O’Hara aus dem verfilmten Roman „Vom Winde verweht“ von M. Mitchell (1936). Von Anfang an war klar, dass Scarlett Bestandteil bleiben würde, denn das ist zum einen an sich schon der kreative, lebendige und lebensbejahende Teil in mir, der mein Schreiben maßgeblich beeinflusst, zum anderen ist es die Verbindung zur Künstlerwelt. Wie lange habe ich gehadert, ob ich nur aus Eitelkeit kreativ sein wollte und es vielleicht gar nicht wirklich war. Bildete ich mir das alles nur ein? Aber auch Kreativität ist etwas, dass wir selbst durch Training formen können, ebenso wie Beweglichkeit, Witzigkeit, Spontanität (zumindest behaupte ich das hiermit). Da ich also den Namen einer literarischen Vorlage trage, dient mir mein Vorname als Schablone für mein Künstlersein. Wie unzählig oft ich gefragt werde, ob schon mein Vorname „Scarlett“ mein Künstlername sei! (Halbsatz off) Scarlett stellt damit die Verbindung zwischen Kunst und Wirklichkeit dar.

Das H in „Scarlett H Mirro“ ist zum einen der Bezug zu meinem Geburtsnamen und damit eine Hommage an meinen früh verstorbenen Vater. Ich trage den Namen Hermann mit Liebe im Herzen. Zum anderen folge ich hier dem irischen Ansatz meiner literarischen Vorlage: O’Hara. Ich bilde mir damit ein, meiner schottischen Seelenverwandtschaft in meinem Künstlernamen Raum zu geben. Auf den Zusammenschluss von H und Mirro mittels eines Apostrophs habe ich verzichtet , weil ich die Schreibform nicht kopieren wollte. Gesprochen klingt mein H Mirro ebenso wie O’Hara, ist aber kein Adelszusatz und auch kein Titel, wie in manchen Kulturen üblich.

Zum guten Schluss hat mein Name ein M als ersten Buchstaben, weil ich die Form des M geschrieben sehr mag; vor allem im Kontrast zum S, da ich ja auch Autogramme mit diesem Namen geben wollte. Es soll sich schließlich für Fans meiner Texte lohnen, sich ein Autogramm abzuholen, ein zwei persönliche Worte zu bekommen und dafür braucht es einen schön geschriebenen Künstlernamen.

Jetzt könntet ihr, liebe Freunde des geschriebenen Wortes, meinen, dass ich nach all den Jahren meinen Künstlernamen wegen besseren Wissens und wegen individuellen Wachstums ändern sollte, doch aus zwei Gründen tue ich das nicht: a) habe ich das vor vielen Jahren in meinem Studentenzimmer in Bochum entschieden, das nicht zu tun und b) habe ich erst in den letzten Jahren verstanden, wie dicht an der Wahrheit der Name ist. Profiliere ich doch immer, weil ich sage, was ich denke (bei weitem weniger, als viele vermuten würden), weil ich meinen eigenen Weg gehe (mit mehr Schmerzen, als die meisten vermuten würden), weil ich alles in Zweifel ziehe und hinterfrage (auch die Selbstzweifel sind nie weit weg), so tue ich das sicher auch mit meinen Texten: die Themen, die Ansichten, die Vielstimmigkeit, das Figurenaufgebot, etc. Das mein Erkenntnisprozess so lange brauchte, liegt vielleicht daran, dass ein Spiegel eben nur reflektiert, nur widerspiegelt und nicht selbst Erkenntnis liefert, das muss der Betrachtende allein tun. Auch wenn es so wirkt, als würde ich arrogant in meinem Schreibkämmerchen sitzen und denken, anderen den Spiegel vorzuhalten und mich darüber zu erheben, so ist darin eine schwere Bürde zu tragen, denn nur den Spiegel zu halten und dem Gegenüber den Rest zu überlassen, ist kaum auszuhalten, ohne nervös hin und her zu rutschen und sich zu wünschen, der andere möge endlich erkennen, möge verstehen, möge sehend werden.

Und bedenkt immer: Wieso sticht der Skorpion den Krebs, der ihn über das Wasser tragen soll? Er kann nicht anders.

Der Superheld Bildungsretter gegen Ignoranz und Gewalt – Ist er ein Mythos?

Letzte Unterrichtsstunde vor den Ferien. Vertretungsunterricht. Die Schülerschaft hat sich einen Film überlegt, den sie sehen wollen. „Nur eine Frau“ (2019). Der andere Lehrer hat grob geschaut, wovon der Film handelt: Tötung einer Frau als Ehrenmord auf deutschen Boden nach einer wahren Geschichte. Der Junge, der den Film vorgeschlagen hat, selbst ein türkisch-stämmiger Junge, kannte die Geschichte. Ich schau mich in der mir unbekannten Lerngruppe um. Ein Mädchen trägt Kopftuch wie die Hauptdarstellerin des Films, genau sie wirkt eher abwesend, beschäftigt sich mit dem I-Pad, dem Handy und ihrer linken Sitznachbarin.

Der Film eignet sich hervorragend, um die Problematik von Tradition und Religion, von Frauenunterdrückung und Rollenproblematiken zu thematisieren, sie zu diskutieren, wenn man sie denn erkennt. Aber worum geht es eigentlich?

Eine junge Türkin wird nach den Regeln ihrer Wurzeln durch den Vater in Istanbul mit 18 Jahren (vermutlich) zwangsverheiratet. Schwanger und vielfach geschlagen kommt sie nach Deutschland zu ihrer zehn-köpfigen Familie (acht Geschwister bei fünf Brüdern und drei Schwestern) zurück und bringt damit die erste Schande über die Familie. Das lassen ihre Geschwister und ihre Eltern sie spüren. Sie ist nicht willkommen, sie hat keinen Platz in der ohnedies engen Wohnsituation und wird schließlich in die Putzkammer verwiesen. Sie sucht sich bei den Ämtern Hilfe, denn die Belastung wird für sie immer größer. Sie will ausziehen. Zweite Schande, die sie über die Familie bringt, denn allein Frauen bringen über die Familie Schande. Nach und nach bricht sie sämtliche Regeln, legt das Kopftuch ab, hat einen Freund, geht einem Beruf nach und kümmert sich um ihren Sohn, aber sie lässt nicht ab von ihrer Familie. Sie will unbedingt ein Teil von der Familie bleiben. Der älteste Bruder rät ihr mehrfach, sich mit ihren Sohn ganz fortzubegeben. Doch sie bleibt, glaubt, dass die Familie ihr verzeihen wird, bis zur Katastrophe.

Der Film zeigt noch 30 verbleibende Minuten an, als die zweite Lehrkraft den Film anhält, zehn Minuten vor dem Pausenschellen.

„Was habt ihr denn verstanden? Worum geht es?“ Standardfrage.

Erster Schock, die häusliche Gewalt als Grund für ihre Rückkehr wird als wenig schlimm angesehen. Sie sei halt wieder da.

Ich hake nach: Wieso wollte die junge Frau Aynur ausziehen?“

Ihren Wunsch, auszuziehen, versteht das Mädchen mit dem Kopftuch als Rücksicht gegenüber der Familie. Das Baby sei eben zu laut. (Schock zwei).

„Wollte sie nicht wegen des Bruders weg?“

Ja wohl auch, was der Bruder gemacht habe, sei nicht so schön, aber der musste deswegen ja die Wohnung (vorübergehend) verlassen, aber sie ist eine Hure.

Zur Erklärung: Der Bruder Sinan belästigt im Film seine Schwester nachts sexuell, nachdem sie aus dem Mädchenzimmer in die Putzkammer gezogen ist, während ihr Baby neben ihr liegt und beide schlafen. Sie stellt ihn am Tag darauf zur Rede. Er würgt sie und streitet es ab, stellt sie als Lügnerin dar, weil sie ausziehen will. Der Vater schickt ihn raus, die Mutter macht ihrer Tochter Vorwürfe. Die junge Frau hat bis zu diesem Moment lediglich ihren Ehemann verlassen, brav und gehorsam alles getan, was ihre Eltern und Brüder von ihr verlangt haben.

„Was ist mit der Not von Aynur? Sie wird belästigt, als Putzkraft ausgebeutet, darf nichts und wird in der eigenen Familie wie ein Mensch ohne Rechte behandelt.“ Nichts. Schulterzucken. Unverständnis.

Meine wichtigste Frage richte ich an den türkisch-stämmigen Jungen von 14 Jahren, der uns diesen Film „beschert“ hat: „Findest du das Mädchen mutig oder glaubst du, sie hat bekommen, was sie verdient?“

Der Junge stottert und sagt, dass sie nicht unbedingt hätte sterben müssen, da ging der Bruder zu weit, aber sie sei eine Hure und habe ihren Glauben verloren und die Eltern beleidigt.

Dann will ich wissen, was sie zur Hure macht.

Ganz klar, die vielen verschiedenen Männer.

„Welche? Bitte benenne die Männer, mit denen sie schläft.“

Also der Mann in dem Geschäft (der mit ihr geflirtet hatte, mehr nicht), Tim, der sich zurückzog, nachdem die Brüder ihm Angst gemacht hatten; der Mann bei Cans Geburtstag. Weitere Männer treten nicht in Erscheinung, bis wir den Film stoppten. Für die Schülerinnen und Schüler waren das einhellig „viele verschiedene“.

Zur Hure mache sie aber auch, dass sie tanzen ging, dass sie sich nicht mehr den Kopf bedecke und dass sie rauche und (vermutlich) Alkohol tränke, also sich auch vom Glauben abwandte.

Wenn sie ein Mann wäre, hätte sie das alles gedurft?

Eine Schülerin fragt uns (als Lehrkräfte), ob wir „auch nur“ denken, dass der Islam frauenfeindlich sei. Sei er aber nicht und dann hören wir den Satz, denn ich schon so oft von Schülern und Schülerinnen gehört habe: Das Paradies liegt zu den Füßen der Mutter. Bevor die Frage beantwortet wurde, ob Männer dann auch zu einer Hure werden, wenn sie rauchen, trinken und tanzen gehen, klingelte es leider.

Der Lehrerkollege (in Ausbildung) erkennt, dass dies kein Film war, den man hintergrundlos am Ende des Schuljahres zeigen kann, dass es hier Handlungs- beziehungsweise Erklärungsbedarf braucht.

Der Anfang der Geschichte fällt mir ein, denn die junge Frau, die für ihren Mut und ihren Wunsch nach gleichberechtigtem Leben den Tod erfährt, erklärt dem Publikum zunächst, dass wir weder Kultur noch Sprache verstehen – wir Deutschen oder wie Westlichen oder wir Christen. Das Problem der Sprache könne sie lösen und ab da sprechen die Protagonisten und Protagonistinnen deutsch. Das Problem der Kultur bleibt genauso ungeklärt wie dieser Teil ungesagt bleibt. Wir stehen vor diesen mittelalterlichen Denkweisen und sind sprachlos. In unserer maßlos zu nennenden Arroganz glauben wir, dass sie (die anderen) sich schon uns anpassen werden, weil es ja unsere Gesetze sind. Wir glauben, dass sie schon verstehen werden, doch in Wahrheit ist alles so komplex und wie ein verheerendes Durcheinander, was sich vielleicht erst in vielen Jahren nach all diesen Ereignissen aufdröseln lässt – „großes Vielleicht“.

  • Da ist die Kultur zu nennen: hier ein Stückchen davon, nämlich die Lüge von der geehrten Frau, denn sie wird nur geehrt, wenn sie sich wie eine Heilige verhält. (Historiengewandte wissen, dass unsere eigenen Vorstellung von der Hure und der Heiligen noch in unserem Blut kriecht, denn das Christentum hatte sehr absonderliche Vorstellungen in unsere Kultur gepflanzt, die noch bis heute wirken: Jack Holland: Misogynie. Die Geschichte des Frauenhasses, 2007.1) Das sichert dem Mann maximale Freiheit und mindestens eine ihn umsorgende Ehefrau unter dem Deckmantel, dass er für die Familie sorgen muss, so ganz allein.
  • Dann ist da die Subgemeinschaft also der türkisch-stämmigen Gemeinde, in der alle den anderen beäugen, dass ja niemand aus der Reihe tanzt und sich alle an die Traditionen, an die Beichtregeln, an die Gepflogenheiten halten.
  • Dann der menschlich soziale Aspekt: Wer kann grausamer sein als die eigenen Geschwister? Dieser mitleidlose Aspekt wird hier durch die hohe Zahl natürlich verstärkt. Durch die Sippenhaft innerhalb der Gemeinde kommen jedoch häufig auch noch weiter entfernte Verwandte wie Cousins dazu – so ist das zum Beispiel bei uns an der Schule
  • Dazu dann der gefährliche Funke: Pubertät (bis 25 Jahre!) meets Testosteron. Die Zeit also, in der junge Männer am anfälligsten sind für Sekten, Radikalisierung, Gewalt, Glaubenssätze, Feindbilder. Gerade das ist sehr glaubwürdig, denn sie hat nicht nur einen Bruder, nicht nur zwei, sondern gleich vier. Dass sie sich auch gegenseitig beweisen müssen, wie taff, wie gläubig und wie stark sie sind, sieht man vor allem in dieser Hochzeitsszene am Anfang, in der nicht ein einziger danach fragt, ob die Schwester diese Ehe will oder wie es ihr damit geht. Sie muss – fertig. Und sie selbst haben ein cooles Fest.

Und wir Lehrys und Politiys träumen davon, dass unser Schulsystem das auffängt? Wir träumen tatsächlich in diesem Dornröschenschlaf, dass es genügt, wenn wir „Stopp“ sagen?

Ich habe bis heute gedacht, dass das Hauptproblem darin bestünde, dass diese Subkultur der Muslime eben wie eine Parallelwelt funktioniere, die zu unserem Wissen keine Verschränkung herstellt. Die veralteten und längst überholten Unterrichtsinhalte unserer Schulen, die durch unsere bemühten Bildungsretter immer wieder mundgerecht zerstückelt werden, bei denen unsere Schülerschaft eher geneigt ist, in Würde den Tischschlaf zu zelebrieren, werden so stark abgelehnt, dass die Parallelwelt davon unberührt bliebe. Der Bildungsretter zu oft in einem lächerlichen Kleid wird so nicht ernsthaft als Held wahrgenommen. Oft ist die Herleitung zu der Realität innerhalb der Parallelwelt viel zu weit hergeholt, von der Bildungselite zu abstrakt gedacht, so dass die Übertragung auf die täglich erlebte Wirklichkeit durch zum Beispiel eine Lektüre von Heinrich von Kleists „Marquise von O.“ nicht vollzogen wird. Doch heute war ich Zeuge, dass unsere Bildungsinhalte wie dieser Film zwar bekannt sind, diese aber ohne Wirkung bleiben, weil sie von der Parallelwelt assimiliert werden. Die Bildungsinhalte werden vollständig anders gelesen bzw. interpretiert und für die eigenen Zwecke „missbraucht“. Der Junge hat zwar gesehen, dass Mord nicht so toll sei (zumal der Imam ja auch betont hatte, dass man in DEUTSCHLAND nun seine Schwester nicht als Ehrenmord steinigen dürfe, in anderen Ländern sieht das anders aus.), aber seine Ansicht nach ist der Film ein Lehrfilm für die muslimischen Mädchen, nicht zu einer „Gefallenen“ zu werden.

Ich habe mich an den Gedanken geklammert, dass die Bildung unser Held in enger Kleidung sei, Bildung erreiche jeden Menschen, so dass sie insgesamt toleranter und freundlicher miteinander umgehen. Natürlich weiß ich, dass kognitives Verstehen noch kein verändertes Handeln nach sich ziehen muss, doch es kann. Dieses „kann“ war es, woran ich meine Hoffnung geklammert habe. Im Wissen, dass unser Schulsystem ungeeignet ist, diesen Job auszuführen, stirbt die Hoffnung dennoch zuletzt. Aber was ist, wenn sie stirbt?

  1. Unsere Geschichten zu diesem ehrhaften Verhalten bestaunen wir unverblümt. Die Literatur ist voll von den Damen, die in eine Gesellschaft eingeführt werden und dumm wie Schafe sind. Denken wir allein an „Frühlingserwachen“, wo das arme Kind glaubt, vom Küssen gibt’s Babys. Und mit welcher Hingabe sehen wir heute die Serie „Bridgetowns“, eben weil sie diese bunte Farbenpracht im Käfig abbildet. ↩︎