samsing rong! Oder, wenn das Jugendschutzgesetz zum Bumerang wird

Eigentlich gut, dass ein Gesetz regelt, wie die Jugendlichen arbeiten dürfen, welche Zeiten eingehalten werden müssen und welche Pausenregelung nötig sind. Blöd nur, wenn das an den Möglichkeiten und Bedürfnissen der auszubildenden Betriebe wie zum Beispiel den Dienstleistern in Gastronomie und Einzelhandel vorbeiläuft. Dann ist es natürlich viel leichter, man stellt erst volljährige Jugendliche ein. Tja, das sind dann doch auch nur zwei Jährchen mehr als die vorgeschriebenen 10 Jahre Schulpflicht. Kein Problem, die hängt der junge Mensch einfach an die zehn Jahre dran, dann kann er jeden Job machen. Und wenn dann noch einige Betriebe auch lieber Volljährige einstellen, weil diese über einen Führerschein fügen könnten, weil sie reifer und entwickelter und ruhiger sind, dann bleiben am Ende der 10. Klasse wenig attraktive Ausbildungsplätze übrig.

Blöder wird’s, wenn den jungen Menschen als Propaganda für die verlängerte Schulhaft versprochen wird, dass sie alle Karriere machen können, alle bekommen ein Abitur und können dann die Universitäten bestürmen und reich werden.

Natürlich rechnet sich ein junger Mensch selbst mit diesen rudimentären Vorstellungen von Zahlen aus, dass die Haftverlängerung um zwei Jahre schon fast ein Abitur wert ist. Ich möchte nicht aus der Praxis erzählen, dass manch pubertierendes Subjekt glaubt, dass man durch Absitzen der Zeit schon erfolgreich aus der Schule gehen muss. Und ich will auch gar nicht darauf hinaus, dass diese sitzgesteuerten Menschen unreif, unerfahren und maßlos anspruchsvoll sind. Unerwähnt lass ich an der Stelle auch, dass eine Note „gut“ je nach Schule Unterschiedliches bedeuten kann, selten aber die inhaltliche Kompetenz wie zum Beispiel ein „gutes“ Englischsprachvermögen ausdrückt.

Ich verstehe inzwischen, dass Jugendliche eine ORIENTIERUNG brauchen und glauben, diese in einer Beurteilung wie in einer Note zu finden. Sie glauben das nicht allein, auch die Eltern und die Arbeitgeber sind diesem Wahn verfallen. Ich verstehe, dass sich alle eine Orientierung wünschen. Doch worin soll sie bestehen? Wenn Noten frei interpretierbar sind und jeder sich in einen Haufen Zahlen hineindenkt, was ihm vorschwebt, findet sich darin keine. Wieso sind wir nicht ehrlich genug, endlich mit all den Beschönigungsversuchen von Noten und Zeugnissen aufzuhören? Könnten wir einen Moment den Menschenverstand benutzen, würden wir erkennen, dass es nur noch eine Schule für alle Kinder geben sollte. Dort würde nicht nach Zahlen, sondern nach individuellem Entwicklungsstand (wie für die Förderkinder) geguckt; es gäbe standardisierte Prüfungen, die in bestimmte Kategorien weisen können (akademisch, handwerklich, kaufmännisch, pädagogisch, künstlerisch, technisch); es würde in diesen ein Mindestmaß an Fertigkeiten, Kompetenzen und Leistungen abgebildet und sie würden nicht von Lehrkräften ausgedacht und ausgewertet, sondern von einem unvoreingenommenen Prüfungskomitee. Und dann ist der Zeitpunkt gekommen, da man „aus einer Toilette trinken kann, ohne Ausschlag zu bekommen.“ Zitat aus „Nackte Kanone 2 1/2„.

Junge Menschen langweilen sich über alle Maßen in Schulen, in denen alles zu kurz kommt, in denen wir Lehrkräfte die Erziehungsarbeit von abwesenden oder desinteressierten oder überforderten Eltern übernehmen müssen, in denen wir mit überholtem Material, überholten Inhalten überfrachtete Curricula in der Zeit frontal vorbeiunterrichten, in denen wir sie nicht auf das Leben und nicht auf die Gesellschaft vorbereiten, außer, dass sie in Haftanstalten sind. Ein Gefängnis kann von seinen Strukturen nicht viel anders sein: Frage nach Essen, Frage nach Pippipausen, Frage nach Hofgang, Frage nach Redezeiten … Ist das nicht auch alles extern für Gefangene geregelt?
Intelligente und angepasste Jugendliche begreifen, dass sie das Spiel mitspielen müssen, sich an die Regeln halten müssen, damit sie irgendwann mit einem guten Zeugnis abgehen können und vielleicht irgendwann Freiheiten haben, wobei diese Freiheiten auch Hamsterräder bereitstellen. Die intelligenten Unangepassten durchschauen es genauso, doch lehnen sie das Spiel ab. Und dann ist der ganze Rest da, der vielleicht an die Lügen glaubt, aber es nicht hinbekommt oder der sich irgendwie verweigert.
Wir wissen, dass die Lernzeit erst in der Praxis erfolgt. Wieso behindern wir den Weg junger Menschen durch unsinnige Noten, die nichts mit dem zu tun haben, was die Jugendlichen wirklich können oder auch wirklich nicht können? Wieso verhindern wir Potenziale mit diesem kasernenartigen soldatenhaften Denken?

Wenn ich einem Unternehmer erzähle, wie Noten „passieren“, was sie wirklich aussagen und was sie auf keinen Fall rückmelden; wenn ich ihm erkläre, wie Unterricht aussieht, was ich inhaltlich im Unterricht in der Sekundarstufe I wirklich machen kann, dann kann er die Noten hinterfragen und erkennt, dass die Form der Auswahl nach Notenbildern unsinnig ist. Jedem einzeln zu erklären, was an unserem Schulsystem kaputt ist, vermag weder ich noch Herr R. D. Precht. Wenn nicht endlich mal jemand der Regierenden den MUT findet, dieses desolate System wirklich grundlegend zu verändern, ist es nicht mal mehr für 30 % eine kleine Lernoption, sondern für alle nur noch eine teure oder billige (je nach Betrachtung) Betreuung mit nachgeholtem Erziehungsauftrag ohne große Erfolgsaussichten.

Jugendliche warten oft nur auf den Moment, an dem sie aus dieser Anstalt heraus sind, um sich dann mit dem zu beschäftigen, was sie interessiert. Vielleicht stellen sie fest, dass sie das ein oder andere auch aus der Schule hätten mitnehmen können, wenn es denn etwas praxisnäher gewesen wäre.
Unsere Schulen sind alle so aufgebaut, dass jedes U-Fach SCHULBÜCHER hat, jedes. Auch ein Fach wie Haushaltsführung, wie Theater, wie Philosophie, wie Sport. Verrückt: alles muss gelesen, beschrieben und dokumentiert werden. Ich glaube zwar, dass man Feilen, Stricken und Spielen nur durch feilen, stricken und spielen lernt, aber vermutlich irre ich mich nach all der Schulpraxis. Ich unterrichte Philosophie, ich unterrichte Theater — äh falscher Satz. Ich habe diese Fächer und ich erarbeite mir Theaterstücke und ich diskutiere Fragen des Lebens mit den Jugendlichen, tatsächlich auch im Spaziergang; Bücher benutze ich sehr sehr ungern dafür. Im Deutschunterricht schreibe ich, weil man interessanter Weise Schreiben nur durch Schreiben erlernt. Wozu braucht es ein Buch, in dem mir bebildert erzählt wird, wie ich eine Möhre schäle? Wir lernen doch alle durch Zugucken und Nachmachen. Zugucken. Nachmachen. Augen auf und Praxis. Üben und üben und üben.

Wann können wir dieses desolate, überholte System ablösen?

Wann nur, wann?

Ich — ich erlebe das ganz sicher nicht mehr (als aktive Lehrkraft).

Welttheater – Straßentheater – Bühnen ohne

Programmheft im Retro-Look

Nach Corona, endlich auch wieder in Schwerte mit dem 29. Festival der Straße. So herrlich bunt, so berührt die Altstadt. Wer noch nicht in Schwerte war, hier im Umkreis lebt, hat sowieso eine sehr schöne Altstadt in der Nähe der Ruhr verpasst. Doch in Szene gesetzt wird die Altstadt bis zur Rohrmeisterei einmal pro Jahr am letzten Augustwochenende durch das Welttheater der Straße.

Der Auftakt mit vielleicht 15 Attraktionen ein wenig schüchtern dieses Jahr, wenig kleine Zusatzprogrammpunkte. Sehen kann man dennoch nicht alles. Schon gar nicht, wenn man so dumm ist wie ich zu glauben, dass Samstag und Sonntag haargenau gleich in Anzahl und Durchführung verlaufen. Das Programm verrät wenig. Doch obwohl ich so wenig gesehen habe, scheinen aktuell die Akteure Bühne neu zu definieren, den Raum des Spiels neu zu erfinden.

Compagnie Dyptik“ haben kleine Inseln für Gäste auf die Bühne aufgebaut und die oft jungen Zuschauys integriert, indem sie diese auf Teppichen installiert haben.

Außerdem war die Bühne wie ein typisch griechisches Theater in der Mitte erniedrigt aufgebaut (was durch die Wahl der Lage optisch begünstigt wurde). Wie eine Manege hatte sie mehrere Ebenen und Stangen dazwischen. Gesang und Tanz würde kombiniert. Worum es eigentlich genau ging, war unklar für mich, aber es war sehr eindrucksvoll, gut aufeinander abgestimmt und dynamisch. Laute stark rhythmisierte Musik begleitete das Spektakel.

Paspartout war der zweite Akt, den ich mir vollständig angesehen hatte. Schon auch, weil ich Clownerie selbst machen möchte und so die Möglichkeit habe, davon Ausschnitte im Unterricht zu zeigen. Clownerie ist nicht meins, doch das war gut gemacht. Kein blöder Klamauk, sondern gut umgesetzte Situationskomik – wenn auch gestellt. Der Elefant (mit drei Menschen im Innern) wirkte unglaublich echt mit klappernden Wimpern und wackelnden Ohren.

Der Clown hat es so gut verstanden, die Kinder zu integrieren und ihren Übermut ohne viel Aufhebens zu bremsen, denn sie wollten ständig den Elefanten streicheln. Dass er französisch gesprochen hat, war völlig egal, wenn er auch einige Worte wie „Sitz“ auf deutsch parlierte. Witzig war, als er eine Dame aus dem Publikum anwies, dem Elefanten gut zuzureden, damit er sich auf den Hocker setzte. Er bat sie, es ihm vorzumachen und sagte „sitz“ zu der Frau. Sie setzte sich auch prompt. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr aufgegangen ist, was er damit zeigen wollte. Lustig, denn Verweigerung wäre blockieren gewesen. Selbst die Kinder reagierten auf „sitz“, wenn sie zu übermütig den Clown herausforderten.

Die Story drehte sich darum, dass der Elefant nicht machte, was er wollte, doch gleichzeitig wurde immer wieder damit gespielt, dass es kein echter Elefant war. Dennoch konnte er Bananen und Zuckerstückchen essen, Elefantenäpfel fallen lassen, Wasser verlangen und trinken und natürlich auch Wasser lassen. Auch widerwillig und listig zeigte sich der „Kleine“. Dazwischen kleine musikalische Einheiten auf der Trompete oder der Ukulele mit Tanz.

Das Ein-Personen-Stück von „Crianças“ war nicht meins, wenn ich auch die Botschaft eindeutig fand: Die Künstlys brauchen mehr Geld. Mich überzeugte die Darbietung von Anfang an nicht. Allerdings die Puppe an den Schuhen und an den Leib gebunden zum Leben zu erwecken, war wiederum ein Highlight.

Wer häufiger Gast des Welttheaters ist, weiß, dass mit dem Sonnenuntergang der Höhepunkt auf den Wiesen hinter der Rohrmeisterei wartet. Dieses Jahr war es für mich zum zweiten Mal ein ganz besonderes Vergnügen. Der krönende Abschluss war die Verwandlung des Publikums in Odysseus Meere von Theater Gajes aus den Niederlanden mit Odyssee. Zum Inhalt steht auf der Ankündigung:

Theater Gajes verwandelt die klassische Erzählung „Die Odyssee“ in eine aufwändige Platzinszenierung, ein Theatererlebnis, das alle Sinne anspricht. Das Publikum selbst wird zum Meer, durch das Odysseus auf seinem Schiff zwischen Verführungen und Gefahren navigiert, getrieben von den Intrigen der Götter.

Bevor es losging, hab ich noch einige Fuhrwerke fotografiert:

Die Helfys, die dafür sorgten, dass die Fuhrwerke passieren konnten, waren in grünen Overalls gekleidet – hier noch ein wenig Entspannung vor der Show.

Theater Gajes (welttheater-der-strasse.de)

Auf Stelzen und in höhergelegenen Fuhrwerken trieben sie durch das Publikum. Im Publikum ein aufmerkendes Raunen, sobald es losging. Unsicherheit im Gemurmel, ob die das wirklich ernst meinen mit dem „durch das Publikum“ Laufen. Und wie Ernst!

Eine Stimme aus dem Off beginnt mit tiefem Klang zu berichten, dass nach dem großen Sieg über Troja, er, Odysseus als Mann der 1000 Listen zurück zu seiner Frau Penelope will. Er betet zu Athene und bittet sie inbrünstig um ihre Unterstützung, denn Poseidon will ihn nicht über das Meer fahren lassen, ihm sei er zu listig. Poseidon, protzig als Lebemann dargestellt, braust auf einem motorisierten Fahrzeug zwischen das Publikum, er wird von lauten, rockigen Metalriffs begleitet. Ihm ist die holländische Sprache zu eigen, während zum Beispiel Athene nur englisch oder Hades italienisch spricht. Durch die Wiederholung von Odysseus wird jedoch schnell deutlich, worum es geht, so dass die Sprache keine Barriere darstellt.

Als Teil der Inszenierung musste jeder Zuschauy schnell reagieren und überall seine Augen haben, denn ganz plötzlich kam etwas von links oder von hinter einem. Die Musik war durch Podeste ebenfalls schön in Szene gesetzt und bewegte sich ebenfalls durch das Menschenmeer, allerdings bei Leibe nicht so dynamisch. Die Akteure schlüpfen immer wieder in verschiedene Rollen, nutzen dabei, dass sie vom Schiff in das Publikum abtauchen können. Manchmal sterben sie beim Kampf, weil der Zyklop sie vernichtet oder weil sie dem Gesang Zirzes verfallen. Durch entsprechende Kostüme gelingen die Wechsel für das Publikum unbemerkt, so dass man manchmal denkt, dass es sich um eine Hundertschaft an Darstellerys handeln müsse.

Die Stationen der Reise waren durchaus die klassischen wie Troja, der Zyklop, die Sirenen, Zirze, die lange Flaute, allerdings sehr modern interpretiert, knapp erzählt, so als habe man keine Zeit, weit auszuholen. Am Schluss wird das Schiff durch einen Sturm zum Kentern gebracht. Mit Hilfe einer Windmaschine, Wasser und Eis tanzen Schneeflocken in der Luft. Letztlich überlebt Odysseus auf dem Meer auf einem Stück Treibgut. Das Schlussbild ist dann, wie er sich an Land und zur wartenden Penelope schleppt, zu ihren Füssen liegt und sie beschwört, bis sie sich umarmen.

Ein wundervolles bildreiches Spektakel, musikalisch sehr ästhetisch in Bild und Ton unterstützt. Wirklich beeindruckend gut gemacht.