Vor langer langer Zeit saß ich in meinem Studentenzimmer (so um 1995) und dachte, es sei an der Zeit für einen Künstlernamen. Im Kafka-Seminar hatten wir gerade darüber gesprochen, dass eine historische Figur mit Namen Franz Kafka nicht identisch ist mit dem Schriftsteller Franz Kafka. Die private Person Kafka umfasst mehr als das, was er geschrieben hat und doch deuten wir heute viele seiner Texte hinsichtlich seiner Privatheit. Darüber hinaus allerdings war Kafka jemand, der mit den Worten, mit der Sprache rang, darüber hinaus war er jemand, der sein Schreiben reflektierte und der wie kein anderer verstand, systemische Ohnmacht auch sprachlich abzubilden. Das ist mehr als sein Problem, Sohn zu sein und als solcher vor seinen eigenen Augen versagt zu haben. Ich wollte damals vor allem mein privates Sein von meinem künstlerischen Sein trennen, denn ich dachte damals noch, dass die Welt auf meine Texte wartete und ich unbedingt berühmt werde. Mein Privatleben war meines, meine Künstlerrolle war öffentlich. Also suchte ich nach einem passenden Wort. Ich spielte mit diversen Wörtern, unter anderem fand ich das Wort „Mirror“ reizvoll. Schwer in der Aussprache, hart als deutsches Wort rückwärts gelesen „Rorrim“, aber das war es noch nicht. Mirror war mir zu platt. Die Idee von Spiegel, sich oder etwas widerspiegeln und verzerren mag ich, auch wenn ich diese Selfi-Welt und das sich vor der Kamera produzieren, wie das heute stattfindet, wirklich ablehne. Aber auch das steckt im Spiegel, die Reflexion der Oberfläche.
Die nächste Zutat war, dass ich ja einen Künstlernamen suchte, also könnte ich ja auch bei Künstlern suchen. Der Künstler Joan Miró macht abstrakte, farbenfrohe Bilder. Diese Kunst mag ich. Damit war ich schon sehr dicht an „Mirror“ dran. Da ich den Namen ja nicht kopieren wollte, hab ich einfach von Mirror das R weggelassen. Wie dicht ich mit meinem Schreiben an diese bunte, schräge, vieldeutbare Kunst heranreiche, war mir damals weniger bewusst als heute. Wenn ich an mein Erstling „Die Lehre von der Chaotologie“ denke, dann steht dieser Text einem Bild wie „Karneval des Harlekin“ (1934) von Miró in nichts nach.
Die literarische Vorlage für meinen privaten Vornamen ist Scarlett O’Hara aus dem verfilmten Roman „Vom Winde verweht“ von M. Mitchell (1936). Von Anfang an war klar, dass Scarlett Bestandteil bleiben würde, denn das ist zum einen an sich schon der kreative, lebendige und lebensbejahende Teil in mir, der mein Schreiben maßgeblich beeinflusst, zum anderen ist es die Verbindung zur Künstlerwelt. Wie lange habe ich gehadert, ob ich nur aus Eitelkeit kreativ sein wollte und es vielleicht gar nicht wirklich war. Bildete ich mir das alles nur ein? Aber auch Kreativität ist etwas, dass wir selbst durch Training formen können, ebenso wie Beweglichkeit, Witzigkeit, Spontanität (zumindest behaupte ich das hiermit). Da ich also den Namen einer literarischen Vorlage trage, dient mir mein Vorname als Schablone für mein Künstlersein. Wie unzählig oft ich gefragt werde, ob schon mein Vorname „Scarlett“ mein Künstlername sei! (Halbsatz off) Scarlett stellt damit die Verbindung zwischen Kunst und Wirklichkeit dar.
Das H in „Scarlett H Mirro“ ist zum einen der Bezug zu meinem Geburtsnamen und damit eine Hommage an meinen früh verstorbenen Vater. Ich trage den Namen Hermann mit Liebe im Herzen. Zum anderen folge ich hier dem irischen Ansatz meiner literarischen Vorlage: O’Hara. Ich bilde mir damit ein, meiner schottischen Seelenverwandtschaft in meinem Künstlernamen Raum zu geben. Auf den Zusammenschluss von H und Mirro mittels eines Apostrophs habe ich verzichtet , weil ich die Schreibform nicht kopieren wollte. Gesprochen klingt mein H Mirro ebenso wie O’Hara, ist aber kein Adelszusatz und auch kein Titel, wie in manchen Kulturen üblich.
Zum guten Schluss hat mein Name ein M als ersten Buchstaben, weil ich die Form des M geschrieben sehr mag; vor allem im Kontrast zum S, da ich ja auch Autogramme mit diesem Namen geben wollte. Es soll sich schließlich für Fans meiner Texte lohnen, sich ein Autogramm abzuholen, ein zwei persönliche Worte zu bekommen und dafür braucht es einen schön geschriebenen Künstlernamen.
Jetzt könntet ihr, liebe Freunde des geschriebenen Wortes, meinen, dass ich nach all den Jahren meinen Künstlernamen wegen besseren Wissens und wegen individuellen Wachstums ändern sollte, doch aus zwei Gründen tue ich das nicht: a) habe ich das vor vielen Jahren in meinem Studentenzimmer in Bochum entschieden, das nicht zu tun und b) habe ich erst in den letzten Jahren verstanden, wie dicht an der Wahrheit der Name ist. Profiliere ich doch immer, weil ich sage, was ich denke (bei weitem weniger, als viele vermuten würden), weil ich meinen eigenen Weg gehe (mit mehr Schmerzen, als die meisten vermuten würden), weil ich alles in Zweifel ziehe und hinterfrage (auch die Selbstzweifel sind nie weit weg), so tue ich das sicher auch mit meinen Texten: die Themen, die Ansichten, die Vielstimmigkeit, das Figurenaufgebot, etc. Das mein Erkenntnisprozess so lange brauchte, liegt vielleicht daran, dass ein Spiegel eben nur reflektiert, nur widerspiegelt und nicht selbst Erkenntnis liefert, das muss der Betrachtende allein tun. Auch wenn es so wirkt, als würde ich arrogant in meinem Schreibkämmerchen sitzen und denken, anderen den Spiegel vorzuhalten und mich darüber zu erheben, so ist darin eine schwere Bürde zu tragen, denn nur den Spiegel zu halten und dem Gegenüber den Rest zu überlassen, ist kaum auszuhalten, ohne nervös hin und her zu rutschen und sich zu wünschen, der andere möge endlich erkennen, möge verstehen, möge sehend werden.
Und bedenkt immer: Wieso sticht der Skorpion den Krebs, der ihn über das Wasser tragen soll? Er kann nicht anders.