Im Deutschkurs befassen wir uns mit der Frage, inwiefern das Denken durch unsere Sprache beeinflusst wird. Natürlich mein Lieblingsthema. Sprache ist Denken und Denken ist Sprache. Unser Sein manifestiert sich durch Sprache. Wenn tatsächlich unser Charakter, unser Verhalten, unsere Persönlichkeit durch die Sprache zur Realität wird – also sich durch die Sprache manifestiert, was bedeutet das dann für unser moralisches Handeln?
Zunächst einmal möchte ich kurz erwähnen, dass viele Sprachwissenschaftler und Sprachphilosophen den Zusammenhang von Sprache und Denken untersucht haben (Whorf, Pinker, Sapir, Bredowski, etc.). So stammt zum Beispiel das folgende Zitat aus „Ich spreche, also bin ich“ von Andreas Gardt von 2019:
„An der identitätsbildenden Kraft der Sprache und des Sprechens führt kein Weg vorbei.“
Kurz erklärt, steckt dahinter die Aussage, dass ich mit jedem Wort zeige, wer ich bin. Die Identität umfasst all das, was mich von jeder anderen Person abhebt. Bezogen auf die Sprache sind das meine Stimmlage, meine Lieblingsphrasen, meine Lieblingssprüche, meine Aussprache, mein Dialekt, mein Wortschatz. All das ist wandelbar. Ich kann zum Beispiel einen Sprachkurs belegen, um meine Aussprache zu verbessern, womit ich sie verändere. Ich kann meine Bildungsinhalte verändern, was meinen Wortschatz vermutlich verändern wird, ich kann neue Sprüche lernen, etc. Natürlich bleibe ich dabei, wer ich bin, im Kern, doch ich verändere mich auch und werde dadurch von außen anders wahrgenommen. In der Regel denken wir darüber natürlich nicht nach, so wie wir auch nicht darüber nachdenken, dass wir uns verändern. Das liegt daran, dass die Veränderungen ein immerwährender Prozess sind; wir verstehen die Welt täglich ein bisschen besser, wir verstehen uns selbst jeden Tag ein bisschen mehr und wir können unsere Bedürfnisse und Gefühle ausdrücken. Mit zunehmenden Erfahrungen verstehen wir auch, womit wir erfolgreicher sind und womit wir erfolgreich(er) sein wollen. Unausweichlich kommen wir an der Sprache und ihrer Magie, unsere Identität zu formen oder zu bilden, nicht vorbei.
Unsere ethische Grundhaltung ist ein Teil unserer Identität, denn wir wollen meistens als gute Menschen, als nette Menschen oder als freundliche Menschen wahrgenommen werden. Nach Kant sollten wir es sogar nicht auf die Absicht ankommen lassen, gut, nett oder freundlich zu erscheinen, denn er erklärt es zur menschlichen Pflicht, dass man so handeln möge, wie man selbst behandelt werden möchte. Da wir jedoch keine Maschinen sind, sondern Menschen, lieber Herr Kant, würde es unsere Welt schon bereichern, wenn wir einfach so handeln würden, dass wir andere mit dem Respekt behandeln, wie wir uns das auch für uns wünschen.
Anatol Stefanowitsch beschreibt in seinem Artikel „Wie Sprache und Moral zusammenhängen“ (2018), dass man nicht nur seine Handlungen nach diesem Muster ausrichten sollte, sondern auch jede Art von Sprechen. Das ist einleuchtend und in Zeiten von „me too“ wissen wir auch genau, dass erst durch eine geschlechterfreundliche Sprache, alle Menschen einbezogen sind, wenn der Fokus auf die Geschlechtlichkeit gelegt ist.1 Wir wissen, weil das von einigen Menschen so geäußert wurde, dass bestimmte Worte als verletzend wahrgenommen werden, dass Worte eine ganze Volksgruppe diskriminieren oder ausgrenzen. So zum Beispiel möchten dunkelhäutige Menschen „Schwarze“ genannt werden, wenn auch das lateinische Wort „negro“ selbige Bedeutung hat und als Bezeichnung vormals verwendet wurde. Doch steht es mir als Mensch zu, zu entscheiden, was für wen verletzend erscheint? Wenn mein Gegenüber mir signalisiert, dass er für sich dort eine Grenze sieht, muss ich diese dann nicht akzeptieren, weil ich selbst wollen würde, dass sie eingehalten wird? Daraus resultiert nicht nur für mich sondern auch für Stefanowitsch die Frage, die ich gern zitieren möchte:
„Diese moralische Position ist eigentlich offensichtlich, wir müssen uns also fragen, warum sie auf deutlich weniger breite Zustimmung trifft als die anderen Beispiele moralisch begründeter Sprachkritik.“ (Stefanowitsch, 2018)
Wenn ich im Ausland bin und mich mit der Landessprache des Besucherlandes quäle, dann wünsche ich mir, dass die Menschen, die diese Sprache beherrschen, langsamer sprechen, einfachere Satzkonstruktionen bilden und den Wortschatz reduzieren. Aber tue ich das selbst? Und: Lässt sich das gar von einer Bevölkerung einfordern? Gehe ich davon aus, dass der Mensch erst dann den anderen in den Blick nimmt, wenn er dessen Problemlage durch eigene Erfahrung kennt, so wird schnell klar, dass ich viele Dinge gar nicht wahrnehmen und damit berücksichtigen kann. Eine Vereinfachung meiner Sprache, um Sprachbarrieren zu umgehen und den anderen teilhaben zu lassen, gestalten sich also als umfangreiches Unternehmen, dass ich erst verstehen muss. Erst wenn ich einen Kinderwagen oder eine Gehhilfe durch die Gegend rollen muss, stelle ich fest, dass Bordsteinkanten eine Herausforderung sind, dass die meisten rollenden Gefährte scheinbar nicht straßenverkehrsgeprüft sind, dass Gehwege zu schmal, zu eng, zu uneben sind. Ich kann mich natürlich auch hinsetzen und darüber nachdenken, was das möglicherweise bedeuten könnte, einen Kinderwagen zu schieben, doch meine Gedanken werden unzulänglich bleiben. Übertrage ich das auf unsere Diskussion um die sprachliche Identität in moralischer Hinsicht, so kann ich zwar erkennen, dass mir basale Erfahrungen fehlen und meine Gedanken nur unzureichend Informationen für ein tieferes Verständnis geben, doch ebenso könnte ich auf die Regel beruhend, dass ich niemand verletzen möchte, darauf vertrauen, dass es mein Gegenüber verletzt, so er dies behauptet. Die Frage von Stefanowitsch hängt noch im Raum: Was hindert uns? Was hindert uns wirklich?
Meiner Ansicht nach, sind wir Menschen nicht in der Lage, dauerhaft Regeln zu befolgen, die wir uns selbst auferlegen und kein Muss darstellen. Es gibt zahlreiche Beispiele, dass der Mensch sich selbst und nicht nur andere wiederholt verletzt: er raucht, trinkt, füttert seinen Körper mit für ihn schlechten Lebensmitteln, nimmt Drogen, schläft zu wenig, isst zu viel, etc. Wäre all das dem Akt der Vernunft allein unterzuordnen, was würden wir alle gesund alt werden! Was könnten wir für eine Entlastung für unser Gesundheitswesen sein.
Moralischen Regeln zu befolgen, gelingt den Menschen ebenso wenig, denn zum einen nutzen sie für sich gedankliche Schlupflöcher wie Definitionen, in denen zum Beispiel „Gott“ damit einverstanden sein müsste, wenn man sich das so auslegt, zum anderen erklären sie einige Regeln für notwendiger und besser als andere Regeln.
Ein Beispiel (mein Lieblingsbeispiel sogar): Du sollst nicht töten! Das steht so deutlich im Koran, in der Bibel und in der Thora – also wird diese Regel maßgeblich von allen drei großen Religionen vertreten (und gefordert, um ins Paradies zu gelangen!). Da steht nicht, dass man Tiere töten darf. Das Argument wird jedoch damit ausgehebelt, dass vom Opfer eines Lammes an anderer Stelle berichtet wird oder, dass der Mensch als Krone der Schöpfung (siehe Genesis) sich die Welt untertan machen soll. Ich als Vegetarierin sehe dieses Schlupfloch nicht und ich kann mich an der Stelle rühmen, ein so guter Mensch zu sein, weil ich das Schlupfloch als solches enttarnt habe und besser lebe. Da gesellt sich das Gefühl dazu, über andere erhaben zu sein. Ich kenne also die Wahrheit, während andere noch im Dunkeln leben. Ein eingefleischter Gläubiger, der auf Lamm, Rind und Fisch nicht verzichten will, wird jedoch genau die Textstellen, die Verse zitieren, die ihn ebenfalls zu einem guten Menschen machen, denn das Opferfest verlangt auch das Opfern von einem Leben. Und auch er wird in seinem Lichte der Wahrheit stehen, während dann, von ihm aus betrachtet, ich im Dunkeln herumdümple: Denn, wie kann ich es wagen, uns Menschen mit den Tieren gleichzusetzen?
Heißt das also, moralisch richtig zu handeln und zu sprechen, hat etwas mit meinen Annahmen zu tun? Die Schwierigkeit eines Perspektivwechsels nach dem Kantischen Prinzip setzt also voraus, dass ich davon ausgehe, dass es keine Wahrheit gibt. Gut, theoretisch wissen wir das schon länger, aber in Wirklichkeit leben wir etwas anderes. Meine Wahrheit nenne ich Grundprinzipien, die selbstverständlich sind, die logisch sind, die allen klar sein müssten. Meine Sprache verschleiert hier, dass es sich wieder nur um Konstrukte handelt, die ich mir schaffe, damit ich für mich moralisch integer bin, für mich und für mein Umfeld, denn von dem Umfeld soll mir widergespiegelt werden, wie ich wünsche, dass man mich sieht. (Ahamkara! Hier sei auf den anderen Blogbeitrag verwiesen.)
Kommen wir kurz auf die Identität zurück – später schere ich bei der Sprache nochmals ein. Ich sehe mich als Mutter, Deutsche (Biodeutsche, denn das scheint noch einmal was anderes zu sein), Frau, Lehrerin, Schriftstellerin, Ruhrpotterin, Europäerin, witzige, unverheiratete, freie, weiße Person. Das alles schafft einen kulturellen auf einen bestimmten Lebensbereich bezogenen Hintergrund. Wie wichtig zum Beispiel meine Herkunft ist, wusste ich erst, als ich 2013/14 in Europa unterwegs war und meine Heimat vermisste. Wenn jetzt alle Deutschen aber wegen ihrer Halsstarrigkeit diskriminiert würden, würde mich das betreffen? Ja, wenn ich mich mit dem Deutschsein identifiziere. Tue ich nicht. Angenommen, Deutsche würden deswegen verfolgt? Dann würde ich sie als meine Brüder und Schwestern schützen. Aber, greift mich das an? Nein. Gerade sagte ich doch, dass ein Teil meiner Identität das Deutschsein sei! Habe ich eine Wahl, mich von dieser Identifikation zu lösen? Und wenn von dieser, kann ich mich dann auch von meinem gesamten Selbstbild, von dem ich will, dass es durch andere mir immer wieder reflektiert wird, lösen? Ich denke, begrenzt geht das, aber meine Stimmlage ist mir genetisch mitgegeben, die kann ich kaum so stark verändern, dass man mich nicht an meiner Stimme wird erkennen könnte. Mein lautlicher Fingerabdruck. Im Kern – so vermute ich – gibt es das auch auf mein Wesen bezogen. Ich kann nur kleine Teile verändern. Und je nach Alter ist das zunehmend mit größerem Aufwand verbunden.
Im Prinzip also müsste doch ein ganz ganz junger Mensch schnell erlernen, was moralisch richtig ist. Falle eins: was ist denn bloß richtig, wenn es keine wirkliche Wahrheit gibt? Falle zwei: wie ist das mit der Genetik? Betrachte ich unser Curriculum für das Fach Praktische Philosophie, sehe ich, dass diese ethischen Grundlagen in allen Jahrgängen thematisch behandelt werden sollten. Diskutiere ich mit Fünftklässlern die Redewendung „Was du nicht willst, das man dir tu, füge auch keinem anderen zu.“, so verstehen sie schon, die Moral von der Geschichte durchaus. Noch in derselben Stunde beleidigt A dann jedoch spontan B, weil B mit dem Stuhl gekippelt hat, falsch geguckt hat, gestern was Blödes zu C gesagt hat oder so zum Spaß (häufige Antwort von beleidigenden Jungen oder Mädchen übrigens),2 natürlich beleidigt B zurück. Das war für A aber zu viel Retour, also wird A handgreiflich und B wehrt sich. Nehmen wir in der Klasse dieses Fallbeispiel, so erfahren wir, dass man sich nicht beleidigen lassen darf, dass man unbedingt zurück beleidigen muss, wegen der Ehre. Auch hab ich schon gehört, dass sei kein gutes Beispiel für die Redewendung oder B nervt einfach und dann kann man nicht anders. Dahinter stecken versteckte Annahmen wie die Absicht zu nerven, zu ärgern, zu empfindlich zu sein oder ähnliches mehr, dahinter steckt das eigene Selbstbildnis, dass es zu verteidigen gilt, dahinter steckt eine kulturelle Prägung, die von den Eltern übernommen wird und erst in der zweiten Phase der Pubertät beginnend (ca. 16-20 Jahre) hinterfragt wird bzw. hinterfragt werden kann. Vielleicht lernen wir erst dann, diese Regel nutzen zu können.
Wenn ich allerdings sehe, welche Politiker unsere Welt lenken, dann denke ich, dass wir längst noch nicht so weit sind, die genetische Anlage des Menschseins zu übersteigen und zu transformieren. Grundsätzlich ist der Mensch in seiner Anlage aggressiv und brutal und will sich und sein Territorium verteidigen, selbst wenn es nichts zu verteidigen gibt. (Zeugnisse: Völkermassenmord, Massentierhaltung, Nationalstolz, Krieg, Zerstörung der Umwelt, etc.). Der Mensch handelt so auf der Basis seiner Gefühle: Neid, Angst, Hass, Missgunst. Unsere Sprache bezeugt unser Sein insofern, als wir diese einfache moralische Sprachregel von Stefanowitsch abgeleitet von Kants moralischen Imperativ nicht umsetzen können, selbst wenn wir ihre Sinnhaftigkeit sogar wünschen. Sie ist vielleicht ein anzustrebendes Ideal. Versuchen? Ja, nur der Versuch macht kluch. Wir wollen ja das Beste in uns und von uns nach Außen zeigen. Doch genauso, wie Videospiele nicht jeden zum Amoklauf treiben und nicht allein dafür verantwortlich sind, dass die Aggression steigt, so lässt sich nicht jeder als Gutmensch kleiden, weil er sprachlich seine Diskriminierungen besser verstecken kann. Die wirkliche Veränderung beginnt weit dahinter, sie beginnt bei der Betonung von Wörtern wie „Schwarzer“, „Mensch mit Einschränkung“ und das beginnt tief hinter der Stirn. Was denke ich über meine (National)Sprache? Was denke ich über Menschen mit Handikaps, mit Deformation, mit sichtbaren und unsichtbaren Makeln? Was denke ich über attraktive, dynamische, erfolgreiche Menschen? Was denke ich über Menschen, die meine Sprache nicht richtig, nicht gut, nicht sicher beherrschen? Was ist für mich typisch deutsch, typisch albanisch, typisch amerikanisch? Welche Vorurteile habe ich? Und wenn ich mich damit auseinandersetze, wenn ich meine Vorurteile als solche Annahmen einer falschen Wahrnehmung entwirre, halte ich mich dann für besser, erfolgreicher, moralischer, richtiger?
Meine Lieben, diese Fallstricke der Moral sind feingesponnen, mögen wir achtsam bleiben und uns sprachlich darin trainieren, uns klarer und freundlicher auszudrücken.
- Zu diesem Punkt nach der permanenten Geschlechtlichkeitsfrage ist die „Philosophische Sternstunde“ mit Lisa Eckert sehr zu empfehlen, denn sie stellt deutlich heraus, dass die Geschlechtlichkeit durch das Gendern permanent in den Blickwinkel gerät, wo er nichts zu suchen hat. Das kann ich teilen. Was wir brauchen, wäre eine geschlechtsneutrale Sprache. ↩︎
- Bei meinen anonymen Umfragen in Schulklassen kam heraus, dass vor allem Jungen gerne aus Spaß daran, dass sich der andere ärgert, Beleidigungen äußern, den anderen Hänseln und wütend machen. Mädchen tuen das deutlich seltener aus Freude am Ergebnis, aber es kommt vor. Der vermeintlichen Gerechtigkeit willen, habe ich das oben nicht weiter differenziert. Meiner Beobachtung entspricht allerdings auch, dass Jungen deutlich häufiger Scheinkämpfe machen, den anderen körperlich angehen oder ihn beleidigen. Mädchen dagegen berühren sich häufiger freundschaftlich und kümmern sich umeinander. Dieses Klischee wird vor allem von den jüngeren Kindern häufiger bedient. ↩︎