Dark Romance, 3-Groschen-Romane – Stil, Aneignung und die Moral von der Geschicht‘

Gelesen hab ich schon immer. Mein erster Roman war Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, danach begann ich mit allen möglichen Fantasyromanen. Träumen in fremden Welten. Marion Zimmer-Bradley allen voran. Dann stieg ich in diese Schundheftchenreihen ein „Mysterie“, „Gaslicht“, als 14 oder 15 Jahre alt war. Ich hatte Gänsehaut beim Lesen, weil ich nicht verstand, sondern fühlte, dass da eine Ebene beschrieben wurde, die mir noch unbekannt war, nach der ich mich dennoch irgendwie sehnte. Heute, mit der sexuellen Bereicherung von mehr oder weniger 30 Jahren Erfahrung, gruselt mich, was ich da für Zeug gelesen habe. Rein formal und stilistisch ein Grauen. Und dann noch die andere Seite: Wie wurden Frauen da skizziert? Meine ersten Beziehungen hatte das durchaus beeinflusst, würde ich behaupten, denn ich wollte auch diese Leidenschaft spüren, ich wollte auch diese Kraft und diese Spannung erleben und ich wollte vor allem die eine sein, für die Mann kämpft und für die Mann alles riskiert. Doch lasst uns mal genauer hinsehen, was es mit diesem neuen Hype auf sich hat. Und was das bedeuten könnte.

Show, don’t tell! – eine Leitsatz fürs gute Schreiben?

Einer meiner Lieblingssätze in der ersten Ausbildungsphase zum Schreiberling:

Show, don’t tell.

Da ich irgendwie alles querbeet gelesen habe, wusste ich natürlich anfangs nicht, was das ist. Novellen sind häufig deskriptiv geschrieben, eher passiv aus der Rückschau und betrachtend oder auch beschreibend. Und ich hab das natürlich übernommen, denn so startet man in der Regel. Als junger Mensch hat man keine Zeit, lange in Szenen einzutauchen, da muss man eben mal schnell darüber berichten. DAS ist sehr langweilig und uninteressant für den Lesenden, denn er kann dann nicht miterleben, was die Protagonisten nur berichten. Heute heißt das: Wie eine Filmszene stelle ich die Handlung dar, zeige Reaktionen, lasse Emotionen auftreten und füge Dialog ein, der sich logisch daraus ergibt. Meine Drei-Groschen-Heftchen waren ebenfalls eher beschreibend und natürlich mit Dialogen nur so vollgestopft, manchmal hinterließ es ein „He?“ im Kopf, „hab ich was überlesen?“ Ein Suchen in den letzten Zeilen ergibt nichts. Ich habe mich von den Schmutzheftchen gelöst, als ich Literatur fand, die mich mehr befriedigt hat, ein Autor davon war Shakespeare. Was genau anders war außer „Show, don’t tell“ hätte ich damals nicht zu sagen gewusst. Heute schon.

Ich habe in den letzten Tagen ein paar Dark-Romance-Romane angelesen, jeweils so 50 Seiten. Da war eine Geschichte mit Werwölfen „Luna Lola“, sie ehemals Alpha büchst aus und sucht sich ein neues Rudel, obgleich sie eigentlich total schüchtern und geschwächt ist. Dann die Geschichte von einer totkranken Ehefrau, die seit Jahren von ihrem liebevollen Ehemann betrogen wurde und der nur darauf wartete, dass sie endlich verstarb. Oder die Geschichte von einer Frau, die nach einem einzigen One-night-Stand aus Rache an den sie betrügenden Ex schwanger geworden ist, die dann von diesem Mann Jahre später erkannt und vergewaltigt wird. Also eine bunte Mischung verschiedener Genres und verschiedener Autorinnen. Es gab noch weitere, in die ich hineingelesen hatte, die drei aber waren von der Plotstruktur am vielversprechendsten und hätten vielleicht interessant gestaltet werden können und auf die will ich mich hier einmal beschränken.
Nehmen wir die Frau, die totkrank ist. Sie war natürlich reich, der Mann hat sich in ihre Schicht eingeheiratet. Durch die Erkrankung war sie nicht mehr in der Lage, Kinder in die Welt zu setzen und er wollte Kinder. Die Ehefrau erbleicht langsam, die Mutter der Zweitfrau ist krank und braucht eine Leber und die kranke Frau steht auf der Spenderliste ganz weit oben. Damit ist die Geschichte klar, der Verlauf auch. Am Ende der Leseprobe erfahren wir auch noch, dass die Zweitfrau oder Nebenfrau, die ihm vor vielen Jahren schon ein Kind geschenkt hatte, geduldig wie eine Spinne im Netz gewartet hatte, um nun endlich anzugreifen. Sie offenbart sich nicht nur, sondern lässt die Ehefrau wissen, dass sie nur eine sekundäre Rolle im Leben ihres Ehemannes spielt. Worum geht es: Wie kann sich die hintergangene Frau nun gegen so gemeine Menschen wehren, wo sie doch so krank ist? Wird sie lang genug leben, um sich noch zu wehren? Und die Arme ist so angeschlagen, dass sie den bösen Ehemann nicht mal anklagt, ihn nicht einmal mit der Wahrheit konfrontiert. Allein die Figurenkonstellation ist zu plakativ, zu wenig interessant gestaltet. Es ist viel interessanter zu lesen, wenn ich statt „gut“ und „böse“ moralisch zu etablieren, jeder und jedem in diesem Spiel einen guten Grund gebe, so zu handeln, wie sie es tun, ohne sich rächen zu wollen, habgierig oder missgünstig zu sein. Wenn all diese Figuren Don’ts, Need’s, Must’s und Help’s haben, werden ihre Charakter spannender. Anders gesagt: Wenn ich verstehe, wieso eine Figur so oder so handelt, dann ergreife ich nicht Partei für eine einzelne Figur, sondern verfolge die Entwicklung aller mit Spannung, denn dann sind mir alle Figuren wichtig, selbst die vermeintlich „Bösen“. Also da war mein erster Kritikpunkt: flache, langweilige Figuren. Eine ganz, ganz schwache Protagonistin, die nur krank ist und sich nicht mehr wehren kann; eine zwiespältige Figur als Ehemann, die mir zu angepasst und zu doppelseitig perfekt ist. Eine böse Gegenspielerin, die die schwache Prot auch noch quält. Wenn ich dem Erzähler schon sagen muss, dass er bitte mal eingreift, weil das alles langweilig ist, dann sind die Figuren uninteressant. Serien finden wir deswegen so interessant, weil die Figuren sich entwickeln und weil sie alle ein Motiv, eine Notwendigkeit und eine nachvollziehbare Charakterbildung haben.

„Show, don’t tell“ gilt also nicht allein für die Handlung, sondern auch unbedingt für die Figuren. Es ist so, dass die Story durch die besonderen Figuren interessant wird, ohne die Figuren ist die Handlung nicht interessant.

Sprachstil ist eins – guter Stil etwas anderes?!

Grundsätzlich zum Stil dieser drei bis sechs Beispieltexte: geringer Wortschatz, wenig komplexer Satzbau, einfache Erzählweise, ausdrucksarme Verben, alles deskriptiv, wenig aktiv. Mein Leseverhalten passt sich in Lichtgeschwindigkeit an: ich lese nur noch die Satzanfänge und höchstens jeden zweite Satz auch zu Ende. All das Nicht-Gesagte fängt an mich zu nerven, denn die Lücken, die das Publikum selbst ergänzen muss, werden immer größer. Hat mich bei „Effi Briest“ genervt, dass die einzig spannende Szene mit einem einzigen Satz abgehandelt war, nämlich dieser berühmten Kutschfahrt, während der Effi dem Ehegatten fremdgeht, so nervt mich das in diesen Romanen ebenso, wenn eigentlich die Handlung beschrieben wird und ich mir erschließen muss, was wirklich passiert ist. Natürlich kann ich in Rätseln schreiben, wenn aber die Rätsel so abstrakt sind, dass ich als Lesende nur noch raten kann, dann wird es mir zu abstrakt.
Beispielstory: Frau hat einen einzigen One-Night-Stand mit einem absolut Fremden als Jungfrau, weil der Mann, den sie ehelichen und für den sie sich „aufsparen“ wollte, ihr fremdgegangen war. Schwanger und bereits aus stolz in eine andere Stadt verschwunden, wird sie zur Alleinerziehenden eines Jungen. Soweit noch irgendwie nett. Aus welchem Grund auch immer muss sie zurück in die Stadt, aus der sie vor vier Jahren floh (bisschen unsauber beschrieben, weil das Kind schon in der Grundschule ist, auch vier Jahre alt ist und irgendwie unklar ist, wie lang es her ist, denn natürlich ist man mindestens 9 Monate schwanger.), sie taucht auf und sucht einen Job und hat Probleme mit dem gleichen Mann bei unterschiedlichen Jobstellen. Der ist natürlich der Vater, der sie gesucht hat, er ist grob, er ist uncharmant und er fällt Urteile, wie Männer es im schlimmsten Fall tun: ohne zu reden und unvorsichtig. Dieser Mann erkennt sie und freut sich, sie gefunden zu haben und er misstraut ihr, weil er meint, dass sie eine Wirtschaftsspionin ist, die es auf sein Unternehmen abgesehen hat. Der Bruder ist ein Schürzenjäger und will die Frau auch verführen, ohne zu wissen, dass das die eine ist. Als der Mann nur ahnt (!), dass die Frau sich auf die Anmache des Bruders eingelassen hatte, erhärtet das seinen idiotischen Verdacht und er vergewaltigt sie, er foltert sie und er will ihr nur noch weh tun. Dann lässt er von ihr ab, weil das ja die Frau ist, die er wirklich will und liebt. Soweit die ersten Seiten. Was klar ist, hier soll ein Missverständnis aufgebaut werden, damit man das irgendwie wieder lösen kann. Klar ist, dass wir Fallhöhe brauchen. Geht ja auch nicht, dass nach wenigen Seiten schon alles gesagt ist. Und dann frag ich mich, bitte was ist das für eine Geschichte? Brauchen wir wirklich noch immer Pseudo-Ja-Geschichten? (Sie sagt erst nein, meint dann aber doch ja und verzeiht ihm all seinen Shit?) Verweisen möchte ich hier einmal auf „Die Marquise von O.“ von Heinrich von Kleist. Er hat seine Geschichte zu Goethes Zeiten verfasst (1808). Die Prot wird von ihrem späteren Ehemann vergewaltigt (als sie ohnmächtig war, hatte er sich an ihr vergangen), wodurch sie schwanger wurde, weswegen ihre Eltern sie verstoßen haben (sie ist durch ihren Stand weich gefallen) und weswegen sie öffentlich nach dem Vater des Kindes suchte, um diesen pflichtgemäß zu ehelichen. Sie hätte sich in ihren Retter (der sie zum einen vor Kriegstätern rettete, zum anderen aber vergewaltigt hatte) verliebt und geehelicht, wollte aber wissen, wer der Täter war. Als sie dann erfuhr, dass ihr Retter auch ihr Täter war, konnte er sein Bedauern beteuern, doch sie machte zunächst einmal emotional dicht, wenngleich sie ihn wie versprochen geehelicht hatte. DAS würde ich fortschrittlich feministisch denken, aber dieser Text. Die Gewaltszene wird direkt so beschrieben, dass man fast Mitleid mit dem Täter bekommt. Bei ihr denkt man die meiste Zeit: „Bist du doof?“ Schaue ich mir das Genre an, dann weiß ich, worauf es hinausläuft und könnte weinen, wenn das unsere weibliche Gesellschaft als Prototyp von Beziehungsschaffen verwendet. Wenn das die Vorlage für das richtige Verhalten ist, dann denke ich, sind wir nicht mehr weit von der Verfreiwilligung von Kopftüchern für alle Frauen entfernt (ich rede hier nicht vom Kopftuch als religiöse Einrichtung, als Glaubensbekenntnis, sondern vom Kopftuch als Positionierung der Frau im Rahmen einer männlich-dominierten Gesellschaft. Das Kopftuch macht die Stellung der Frau im Rahmen der drei K’s und in Punkto Hierarchie hinsichtlich Ehemann oder Vater sehr deutlich.). Es ist die Erotisierung von Gewalt, wie ich sie als Jugendliche aus meinen Gaslicht-Romanen kennengelernt habe. Der Mann darf zornig sein, weil er eifersüchtig ist und drückt der Frau leidenschaftlich-wütend einen Kuss auf den Mund. Und natürlich wartet die Frau darauf und natürlich will sie das, obwohl ihr die Gewalt Sorgen bereitet. Aber ehrlich: Vergewaltigung war damals Vergewaltigung und nicht „nur“ Übergriffigkeit. Die Männer hatten in den Schundheftchen meiner Generation so viel Stolz, dass sie von den Frauen gewollt werden wollten, trotz Übergriffigkeit, also haben sie die Frauen nicht vergewaltigt, sondern nur ein wenig „angeteasert“. Diese Phantasien gehen ergo ein bisschen weiter und ich bin schockiert, als Autorin, als Mutter, als Feministin, als Lehrerin.

Nur eine schlechte Auswahl getroffen – oder?

Die Tageschau.de gibt wieder, wieso Dark-Romance so erfolgreich ist (siehe Warum der Dark-Romance-Hype für Furore sorgt, 23.05.2025). Ein zentrales Motiv sei, dass junge Frauen sich bei Themen wie „toxische Beziehungen, Stalking, Entführung, körperlicher und psychischer Gewalt oder Machtmissbrauch“ wegträumen könnten – Eskapismus. Zielgruppe sind Frauen zwischen 18 und 30 Jahren. Ist das nicht das Alter, das für die Ehe prägend ist? Und es lesen tatsächlich auch Mädchen ab 14 Jahren diese Romane. Ab 18 ist dann also eher ein Wunsch, nicht die Realität.

„Für Carolin Hauskeller, Buchhändlerin aus Dresden, liegt die Problematik dabei jedoch in der Romantisierung von Gewalt. Meist sei der männliche Protagonist der Frau überlegen, ob in gesellschaftlichen Rang, Status, im beruflichen Umfeld oder einfach nur körperlich. Gewalttätige Handlungen würden mit psychischen Problemen des Protagonisten „erklärt“ oder mit „Liebe“ gerechtfertigt. ‚Auch die Nomenklatur des Genres und der einzelnen Tropes sind verharmlosend‘, so Hauskeller.“ (Warum der Dark-Romance-Hype für Furore sorgt)

Ich teile mit der Autorin Nele Deutschmann, die diesen Artikel verfasst hat, die Besorgnis, dass hier nicht nur patriarchale Verhaltensweisen festgeschrieben werden, sondern dass durch die Hintertür der Fortgang des Feminismus im Sinne eines neuen Verständnisses von partnerschaftlichen Verbindungen durch diese angebliche weibliche Rettung des Mannes nach seiner erfolgreichen Erniedrigung entgegen gewirkt wird. Schlimmer noch spricht Hauskeller von „Fem-Washing“, dass nämlich diese Inhalte letztlich als Feminismus verkauft werden, weil die Liebe schließlich siege.

Eine Verantwortung für den Text – die Gesellschaft, die Bildung, die Kunst und der Markt

Schon vor langer Zeit stellte ich mir die Frage, ob ich eigentlich alles, was ich schreibe, auch veröffentlichen darf und sollte. Über alles wurde zu allen Zeiten schon gedacht und geschrieben. Nur unsere ganz menschliche Arroganz verführt uns zu der lächerlichen Annahme, Menschen anderer Epochen, anderer Zeitalter hätten nicht so schlaue Ideen gehabt, wären nicht so neugierig und forschend gewesen, hätten weniger Verstand gehabt. Unsere Überheblichkeit gaukelt uns vor, dass sie weniger kunstfertig, weniger clever, weniger kommunikativ oder weniger begabt gewesen wären. Alles wurde schon gesagt, gedacht und geschrieben. Vielleicht muss man es nur in jeder Zeit noch einmal wiederholen, vielleicht in jeder Zeit noch einmal anders sagen. Sicher aber bin ich, dass hier Bescheidenheit nicht nur Zierde sondern auch das Gebot der Höflichkeit ist. Sokrates‘ Bekenntnis des Nichtwissen ist keine Bescheidenheit, keine Höflichkeit oder freundliche Zurückweisung eines Kompliments, weil er als kluger, weiser Mann beschrieben wurde. Sein Bekenntnis ist viel mehr die Anerkennung der höheren Weisheit oder Klugheit, nämlich der der menschlichen Gemeinschaft. Alles wurde bereits schon gesagt und gedacht und geschrieben. Wir wiederholen uns nur.

Allerdings drängt sich dadurch die Frage nach der Verantwortung auf. Bin ich in erster Linie Autorin und Künstlerin oder in erster Linie an einem wirtschaftlichen Erfolg interessiert? Ich selbst würde mich zu erster Gruppe zählen, was auch erklärt, dass ich bislang nicht so erfolgreich vermarktet habe. Doch inwieweit kann ich mich von meiner Verantwortung entfernen, was ich schreibe, um vor allem erfolgreich zu sein? Kann und darf ich das? Oder deckt sich hier zufällig der Erfolg mit der eigenen Lebensbetrachtung? Kann es sein, dass ich als Frau diese Geschichten mit der Überzeugung veröffentlichen will, dass die Welt diese Geschichten braucht? Es geht nicht nur darum, etwas zu schreiben, damit man gelesen wird. Oder sehe ich mein Künstlerbegriff zu romantisch, zu heroisch?

Als Lehrerin oder Coaching für das Schreiben von Texten: Kann ich wollen, dass man so und sowas schreibt? Könnte ich guten Gewissens in eine Richtung schulen, bei der diese Ergebnisse in die Gehirne gekippt werden, um als junger Mensch eine Vorstellung zu bekommen, wie Partnerschaft äh Pardon Beziehung funktioniert?

Als Autorin: Kann ich wollen, dass eine Geschichte wie die aus einem dieser Roman für die jungen Leserinnen (ich denke, da muss man auch nicht mehr gendern) zur Realität dieser wird? Kann ich das wollen, dass das zum Leitmotiv, zum Vorbild genommen werden kann?

Im Moment bin ich erleichtert, dass statistisch gesehen junge Männer weniger lesen, dass Männer, wenn sie lesen, vor allem Fachliteratur lesen, dass Männer auch nicht wissen, welche super Vorlagen diese jungen Frauen lesen, sonst würden sie sich vielleicht die Hände reiben und denken: der Patriarch ist wieder auf dem aufsteigenden Ast. Dann müsste er sich politisch nicht so bemühen, aristokratisch aufzutreten, um bloß nicht die Vorherrschaft teilen zu müssen.
Alarmiert bin ich dennoch, denn was sind das bloß für Sehnsüchte, die Frauen hegen und pflegen?

Als Autorin und Feministin sehe ich jedoch einen anderen Markt sich öffnen. Statt zu schimpfen auf diese Geschichten, sollten wir Schreiberlinge uns zusammensetzen und die Bleistifte spitzen und neue Geschichten entwerfen, die bieten, was dieses Alter offensichtlich herbeisehnt, allerdings nicht mit „seufz schönen, aber schwachen Frauen“, sondern mit starken, selbstkritischen und vielseitigen Frauen, die ihre Partner nicht nach Sexappeal und männlichen Dominanzgebaren wählen, sondern aufgrund von freundschaftlichen, lebensbejahenden, partnerschaftlichen Attributen. Wie also bieten wir diesen „Young Adult“ das zum Träumen, was ihnen für die Realität eine Basis schafft, die wir vielleicht so nicht hatten?

Füllstand nahe am Limit? Alles drin, wenn man das Limit erweitert …

Mein Kalender erinnert mich regelmäßig daran, dass ich einen Blogbeitrag schreiben will. Inhalte gibt es massenhaft, zu denen ich mich äußern möchte und doch leuchtet regelmäßig wie ein Warnblinker im Kalender diese „Aufgabe“ auf, die nicht erledigt ist.

In meinem Kalender mit den zukünftigen Blättern zeigt sich eine Fülle, die sich kaum noch managen lässt, dabei muss ich alles ja nur immer schön nacheinander abarbeiten. Es darf nur nichts mehr dazwischen kommen. Die Leerstellen sind seltener. Heimlich baue ich schon Fake-Termine ein, damit ich wenigstens dann mal was verschieben kann. Gutgemeinte Ratschläge und selbst auferlegte Übungen wie auch Büroarbeit, Tagebuchnotizen, kurze sportliche Dehnübungen, Cello-Übungseinheiten von 20 Minuten ebenfalls im Kalender zu phasieren und ordentlich darin unterzubringen, müssen ja notwendig scheitern, denn der Toilettengang, das Essen und Trinken, das Einkaufen, die Verkehrsüberwindungswege sind überhaupt nicht eingerechnet. Wie auch? Davon weiß mein Kalender und mein Kopf offensichtlich zu wenig.

Dann passiert auch Unvorhersehbares: Einfach so bricht Leben in die Planung: Plötzlich mischt der Körper sich als neue Instanz ein. Irgendwas hat er, um das man sich kümmern muss. Bedürfnisse von anderen wollen gehört, gesehen und erfüllt werden. Wie viel geht man da mit?

Ich liege oder sitze im Krankenhaus, abholbereit. Neben dem Aspekt, dass ich gerade eine Abfahrt genommen habe, die mich auf einen Parkplatz brachte, kann ich hier endlich mal ein paar Dinge abarbeiten und meinen Terminkalender durchforsten. Es ist gut, wenn die Fake-Termine auch für mich fake sind, sonst platze ich für den Kalender durch Überladung: Geburtstage, Tangoveranstaltungen, Kulturangebote, Interesse an Kino und Theater (wobei ich das schon so sehr runtergeschraubt habe), Familienevents, Sonderaufgaben (Umzug, Ummeldung, Kind bei Amt und Krankenhaus unterstützen, etc.), arbeitsbedingte Termine (Elternabend, Teamsitzungen, Sondertreffen, Tag der offenen Tür, etc.), Arztbesuche, Freunde besuchen … Oder was schlummert in deinem Kalender alles noch?

Die größte Freiheit, die mir das Jahr 2013/14 mit meinem Sabbatical gewährt hatte, war die Freiheit des leeren Kalenders. Wir mussten nie irgendwo zu einer bestimmten Zeit sein, außer Weihnachten in Portugal und März in Marokko. Alles war frei. Nichts musste besorgt, eingehalten, erledigt werden. Während Corona gab es das auch noch einmal, da kamen die Auflagen von außerhalb dazu, was die Freiheit stark einschränkte. Darauf zu hoffen, es würde sich im Alter wieder so entwickeln, ist ein Irrglaube, wenn ich die überbeschäftigten älteren Menschen sehe.

Und die Frage ist ja auch eher, was kann ich jetzt tun, wie kann ich mir in meinem Alltag jetzt schon Räume installieren, in denen ich nichts zu tun habe und nichts tun muss?

Darauf fehlt mir noch immer die eine Antwort. Die Lösung ist nicht, ins Ausland zu gehen oder weniger zu arbeiten (weil das nach der aktuellen Gesetzeslage gar nicht möglich ist) und sie liegt nicht darin, einfach weniger Termine zu machen. Was für einen Unsinn, denn wenn das möglich wäre, wäre ich schon längst Profi darin.

#Überfülle!

Darum geht es eigentlich. Und wenn ich mich umschaue, dann sehe ich bei den Männern in nächster Nähe, dass entweder die Frau den Kalender füllt, oder sie gar nicht so viele Termine haben. Ein Ex-Freund von mir hat es gehasst, dass ich immer unterwegs war und auch noch voraussetzte, dass er mitzieht. Seit wir nicht mehr ein Paar bilden, hat er nur noch einen Bruchteil an Terminen. Wie ein alter Mensch lebt er zurückgezogen und sieht selten jemanden. Aber ist das hier wirklich geschlechtlich zu differenzieren? Ich hoffe nicht, ich suche ja eine Lösung.

Meine Analyse zeigt, dass es Wunschtermine gibt oder Wunschveranstaltungen, die im Jahr verstreut mehr oder weniger viel Bedeutung haben und deren Wahrnehmung mir mehr bedeuten als bei anderen Terminen: ein besonderer Ball, der Besuch von Phantasialand mit meiner Familie, ein vorbereiteter Spieleabend, ein Urlaub, ein Segelwochenende, um nur einige zu nennen. Dann gibt es Termine, die sind wichtig, nicht schön, aber wichtig: Der 70. Geburtstag von XY, der OP-Termin, der Tag der offenen Tür. Dazu gibt es noch Termine, die sind wiederkehrend einfach da und man tut sie aus Gewohnheit, aus Pflicht und aus Spaß in sonderbarer Mischung: Weihnachtsmarktbesuch, Ritualisierte Termine, Treffen zum Kegeln, zum Tango, zum Spielen, der Besuch von Kursen aller Art (Kunst, Sport, Weiterbildung, Tanz, etc.) … Und wer all das nicht hat, den nenne ich einen Zeitvagabunden – solch ein Mensch ist frei. Sehr viel freier als ich zumindest. Das Übermaß an Angebot und das Bedauern darüber, dass die Zeit nur einmal mit meiner Anwesenheit erfüllt und ausgefüllt werden kann, irreversibel ist, lässt mich oft Hinterherhecheln hinter all den Ereignishorizonten meines Kalenders. Und bedauerlich stell ich fest, wie der digitale Kalender mir ermöglicht, selbst das Verstreichen und Vorübergehen eines Events mitzuerleben, noch während ich zeitgleich ein anderes besuche.

#Stadt vs. Land

Eine arrogante Einbildung gestattet mir, zu glauben, dass es außerhalb der schnelllebigen Großstadt anders wäre. Natürlich lebe ich in der Großstadt. Eine ländliche Kleinstadt wie Iserlohn hielte ich kaum aus. Schützenverein statt Tangoverein, Doppelkopf in der Dorfpinte statt Spieleverein, Kleinkunstbühne statt selbst bei einer Improgruppe mitzumachen oder Theaterpädagogy zu werden.

Nachteile gibt es natürlich auch, aber die VOOOOORteile, diese immensen Vorteile, die überwiegen jedes Leid. Ich lebe gern in der Stadt. Das Angebot ist groß, die Menschen ignorant und tolerant. Ich muss mich nicht anpassen und kann meinen Spleen ausleben, so viel und oft ich will. In was für ein Dorf könnte ich auch schon passen?!

Bleiben wir doch ein bisschen bei der Idylle des Landes, dann finde ich dort auf jeden Fall meine Ruheinseln, meine Ruhemomente. Ablenkung finde ich überall, aber wenn mich der Terminkalender vorantreibt und ich den Angeboten, den Ereignissen und den Verpflichtungen hinterherrenne, bin ich auch nur Sklave und nicht Herr über meine Zeit. Wenn ich noch das New-Age-Design-Konzept von „Work-Live-Balance“ in meinem Hirn Ping-Pong spielt, dann steh ich kurz vor einem Freizeit-Burnout. Und dann erinnere ich mich an unsere Anfang 30er, die aktuell dieses Work-Live-Balance-Thema für sich zu einer heiligen Kuh erhoben haben und erklären, dass sie deswegen lieber mal die Alten schuften lassen, als selbst mehr als nötig arbeiten, weil doch das „Live“ in dieser Balance-Geschichte definitiv groß geschrieben ist und sie auch mit 80 Jahren noch knechten müssen. Ich will gar nicht sagen, dass dieses „Live“ oder das was wir früher profan nur Freizeit nannten so viel Übergewicht bekommen hat, dass es gut wäre, wir würden uns davon ein wenig Luft machen, befreien. Notwendig wäre, die Aktivitäten zu reduzieren, also Ballast abwerfen, um Balance zu finden und Aufwind zu bekommen. Die Theorie ist also damit klar, aber was bedeutet das in der Praxis, außer dass ich meine Termine nun auch noch für eine bessere Luft weniger machen sollte?

Hört mich jemand da draußen und hat Ideen, die mir noch nicht gekommen sind?

Freu mich auf Kommentare.

Scarlett

Wortfuge, Onlineseminare und Insta – Häppchenvideos als Wortwerkstatt

Hallo meine lieben Wortverschlinglys (also, es klingt nicht schön, wenn ich euch mit „Wortverschlingende“ ansprechen würde),

Ein anderes Feld, in dem ich mich betätigen will, sind Online-Schreibworkshops, eigentlich eher Schreibtrainingseinheiten. Besserwisservideos oder Erklärvideos gibt es ja zahlreiche, doch ich denke, ich könnte gut Schreibtrainings leiten oder eher anleiten, anregen. Wer braucht schon Besserwissys?

In dem Rahmen habe ich meine ersten Reels gemacht: kleine Video-Häppchen als Anregung auf Instagram. Drei Minuten, um „Kill your darlings“, „Tiefenstruktur“ oder „Braiding“ zu erklären, ist natürlich sportlich, aber für ein Training genügt das dann nicht mehr. Der Vorteil ist, dass man sich auf das Wesentliche konzentrieren muss. Eingang, Inhalt und Abgang. Schon sind drei Minuten gefüllt.

Mit Schreiben verhält es sich wie mit Tango, mit Sport, mit dem Erlernen eines Musikinstruments, mit einer neuen Sprache: Training ist alles. Und der Erfolg zeigt sich an Wegmarken, nicht in kleinen Einheiten. Ich habe ein putziges Video gesehen, wie eine Frau mit einer Tüte Chips in der Hand vor einer Küchenwaage steht, ein Chip drauflegt und die Waage „0,00“ Gramm anzeigt. Sie isst diesen freudig und verfährt mit dem nächsten gleichermaßen. Genauso wirkt das Trainieren. Von einem Waldhornspieler habe ich jedoch gelernt, dass das Trainieren selbst schon der Spaß sein muss, damit das Üben kein Üben sondern bereits Spielen ist. Plötzlich stehe ich an der Wegmarke: „Wow, tolle Geschichte!“ oder an der Wegmarke: „Wir wollen Ihr Buch ausstellen!“ oder an der Wegmarke: „Was ist ein Oxymoron und wieso verwendest du das hier?“ Wegmarken sind wie Begleiter, die auf dem Weg davon erzählen, was man erreicht hat. Doch braucht es diese Begleiter? Ich denke ja, denn sie zeigen uns unsere eigene Entwicklung, unser Fortkommen. Im Schreiben sind das für mich die Momente des Austauschs mit meiner Leserschaft, beim Tango sicher die Momente, wenn ich mit Tänzern ohne zu stolpern tanzen kann, mit denen ich früher hätte nicht tanzen können. Was auch immer deine Passion ist, was auch immer die Fertigkeit ist, die du bis zur Meisterschaft führen willst, begegne den Wegmarken mit Achtsamkeit und Freude, halte inne und sieh zurück, was du bis dahin schon geschafft hast.

Aber ich, ich schreibe nicht für die Wegmarken und ich schreibe nicht für dich, als Lesy. Wenn ich schreibe, dann versinke ich in meine Fantasie, dann spiele ich mit Worten, dann denke ich mir etwas aus mit doppelter und dreifacher Bedeutung. Bei dem Film „Vivarium“ (2019) von Lorcan Finnegan werden die beiden Protagonisten Gemma und Tom in eine neue Wohnsiedlung geführt, in der auch noch niemand zu wohnen scheint, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Es gibt für sie ein Begrüßungskorb mit Erdbeeren und Sekt. Ich dachte sofort an Hades Reich, an die Früchte, von denen man (Persephone) nicht Essen darf, um entkommen zu können. Als sie davon essen, war mir klar, dass sie dort auch nicht mehr rauskommen würden. Keine Kritik hat das daraufhin gedeutet. Ich bin mir aber sicher, dass der Drehbuchautor Garret Shanley dies im Hinterkopf hatte, dies und auch die Vertreibung aus dem Paradies nach dem Essen von der verbotenen Frucht (die kein Apfel war). Solch eine Idee in meinen Geschichten greife ich auf und verfolge das weiter, suche nach weiteren Möglichkeiten, das symbolisch auszuwerten. Das macht mir Spaß. Und das tue ich für mich, weil es mir Spaß macht. Natürlich frage ich mich, wem das beim Lesen auffällt, aber das ist tatsächlich sekundär.

In diesem Sinne: Lass mir einen Kommentar da, auch, ob dich davon mehr interessiert.

Und die Moral von der Geschicht‘ – traue Moralpropheten nicht? – eine sprachphilosophische Betrachtung

Im Deutschkurs befassen wir uns mit der Frage, inwiefern das Denken durch unsere Sprache beeinflusst wird. Natürlich mein Lieblingsthema. Sprache ist Denken und Denken ist Sprache. Unser Sein manifestiert sich durch Sprache. Wenn tatsächlich unser Charakter, unser Verhalten, unsere Persönlichkeit durch die Sprache zur Realität wird – also sich durch die Sprache manifestiert, was bedeutet das dann für unser moralisches Handeln?

Zunächst einmal möchte ich kurz erwähnen, dass viele Sprachwissenschaftler und Sprachphilosophen den Zusammenhang von Sprache und Denken untersucht haben (Whorf, Pinker, Sapir, Bredowski, etc.). So stammt zum Beispiel das folgende Zitat aus „Ich spreche, also bin ich“ von Andreas Gardt von 2019:

„An der identitätsbildenden Kraft der Sprache und des Sprechens führt kein Weg vorbei.“

Kurz erklärt, steckt dahinter die Aussage, dass ich mit jedem Wort zeige, wer ich bin. Die Identität umfasst all das, was mich von jeder anderen Person abhebt. Bezogen auf die Sprache sind das meine Stimmlage, meine Lieblingsphrasen, meine Lieblingssprüche, meine Aussprache, mein Dialekt, mein Wortschatz. All das ist wandelbar. Ich kann zum Beispiel einen Sprachkurs belegen, um meine Aussprache zu verbessern, womit ich sie verändere. Ich kann meine Bildungsinhalte verändern, was meinen Wortschatz vermutlich verändern wird, ich kann neue Sprüche lernen, etc. Natürlich bleibe ich dabei, wer ich bin, im Kern, doch ich verändere mich auch und werde dadurch von außen anders wahrgenommen. In der Regel denken wir darüber natürlich nicht nach, so wie wir auch nicht darüber nachdenken, dass wir uns verändern. Das liegt daran, dass die Veränderungen ein immerwährender Prozess sind; wir verstehen die Welt täglich ein bisschen besser, wir verstehen uns selbst jeden Tag ein bisschen mehr und wir können unsere Bedürfnisse und Gefühle ausdrücken. Mit zunehmenden Erfahrungen verstehen wir auch, womit wir erfolgreicher sind und womit wir erfolgreich(er) sein wollen. Unausweichlich kommen wir an der Sprache und ihrer Magie, unsere Identität zu formen oder zu bilden, nicht vorbei.

Unsere ethische Grundhaltung ist ein Teil unserer Identität, denn wir wollen meistens als gute Menschen, als nette Menschen oder als freundliche Menschen wahrgenommen werden. Nach Kant sollten wir es sogar nicht auf die Absicht ankommen lassen, gut, nett oder freundlich zu erscheinen, denn er erklärt es zur menschlichen Pflicht, dass man so handeln möge, wie man selbst behandelt werden möchte. Da wir jedoch keine Maschinen sind, sondern Menschen, lieber Herr Kant, würde es unsere Welt schon bereichern, wenn wir einfach so handeln würden, dass wir andere mit dem Respekt behandeln, wie wir uns das auch für uns wünschen.

Anatol Stefanowitsch beschreibt in seinem Artikel „Wie Sprache und Moral zusammenhängen“ (2018), dass man nicht nur seine Handlungen nach diesem Muster ausrichten sollte, sondern auch jede Art von Sprechen. Das ist einleuchtend und in Zeiten von „me too“ wissen wir auch genau, dass erst durch eine geschlechterfreundliche Sprache, alle Menschen einbezogen sind, wenn der Fokus auf die Geschlechtlichkeit gelegt ist.1 Wir wissen, weil das von einigen Menschen so geäußert wurde, dass bestimmte Worte als verletzend wahrgenommen werden, dass Worte eine ganze Volksgruppe diskriminieren oder ausgrenzen. So zum Beispiel möchten dunkelhäutige Menschen „Schwarze“ genannt werden, wenn auch das lateinische Wort „negro“ selbige Bedeutung hat und als Bezeichnung vormals verwendet wurde. Doch steht es mir als Mensch zu, zu entscheiden, was für wen verletzend erscheint? Wenn mein Gegenüber mir signalisiert, dass er für sich dort eine Grenze sieht, muss ich diese dann nicht akzeptieren, weil ich selbst wollen würde, dass sie eingehalten wird? Daraus resultiert nicht nur für mich sondern auch für Stefanowitsch die Frage, die ich gern zitieren möchte:

„Diese moralische Position ist eigentlich offensichtlich, wir müssen uns also fragen, warum sie auf deutlich weniger breite Zustimmung trifft als die anderen Beispiele moralisch begründeter Sprachkritik.“ (Stefanowitsch, 2018)

Wenn ich im Ausland bin und mich mit der Landessprache des Besucherlandes quäle, dann wünsche ich mir, dass die Menschen, die diese Sprache beherrschen, langsamer sprechen, einfachere Satzkonstruktionen bilden und den Wortschatz reduzieren. Aber tue ich das selbst? Und: Lässt sich das gar von einer Bevölkerung einfordern? Gehe ich davon aus, dass der Mensch erst dann den anderen in den Blick nimmt, wenn er dessen Problemlage durch eigene Erfahrung kennt, so wird schnell klar, dass ich viele Dinge gar nicht wahrnehmen und damit berücksichtigen kann. Eine Vereinfachung meiner Sprache, um Sprachbarrieren zu umgehen und den anderen teilhaben zu lassen, gestalten sich also als umfangreiches Unternehmen, dass ich erst verstehen muss. Erst wenn ich einen Kinderwagen oder eine Gehhilfe durch die Gegend rollen muss, stelle ich fest, dass Bordsteinkanten eine Herausforderung sind, dass die meisten rollenden Gefährte scheinbar nicht straßenverkehrsgeprüft sind, dass Gehwege zu schmal, zu eng, zu uneben sind. Ich kann mich natürlich auch hinsetzen und darüber nachdenken, was das möglicherweise bedeuten könnte, einen Kinderwagen zu schieben, doch meine Gedanken werden unzulänglich bleiben. Übertrage ich das auf unsere Diskussion um die sprachliche Identität in moralischer Hinsicht, so kann ich zwar erkennen, dass mir basale Erfahrungen fehlen und meine Gedanken nur unzureichend Informationen für ein tieferes Verständnis geben, doch ebenso könnte ich auf die Regel beruhend, dass ich niemand verletzen möchte, darauf vertrauen, dass es mein Gegenüber verletzt, so er dies behauptet. Die Frage von Stefanowitsch hängt noch im Raum: Was hindert uns? Was hindert uns wirklich?

Meiner Ansicht nach, sind wir Menschen nicht in der Lage, dauerhaft Regeln zu befolgen, die wir uns selbst auferlegen und kein Muss darstellen. Es gibt zahlreiche Beispiele, dass der Mensch sich selbst und nicht nur andere wiederholt verletzt: er raucht, trinkt, füttert seinen Körper mit für ihn schlechten Lebensmitteln, nimmt Drogen, schläft zu wenig, isst zu viel, etc. Wäre all das dem Akt der Vernunft allein unterzuordnen, was würden wir alle gesund alt werden! Was könnten wir für eine Entlastung für unser Gesundheitswesen sein.

Moralischen Regeln zu befolgen, gelingt den Menschen ebenso wenig, denn zum einen nutzen sie für sich gedankliche Schlupflöcher wie Definitionen, in denen zum Beispiel „Gott“ damit einverstanden sein müsste, wenn man sich das so auslegt, zum anderen erklären sie einige Regeln für notwendiger und besser als andere Regeln.

Ein Beispiel (mein Lieblingsbeispiel sogar): Du sollst nicht töten! Das steht so deutlich im Koran, in der Bibel und in der Thora – also wird diese Regel maßgeblich von allen drei großen Religionen vertreten (und gefordert, um ins Paradies zu gelangen!). Da steht nicht, dass man Tiere töten darf. Das Argument wird jedoch damit ausgehebelt, dass vom Opfer eines Lammes an anderer Stelle berichtet wird oder, dass der Mensch als Krone der Schöpfung (siehe Genesis) sich die Welt untertan machen soll. Ich als Vegetarierin sehe dieses Schlupfloch nicht und ich kann mich an der Stelle rühmen, ein so guter Mensch zu sein, weil ich das Schlupfloch als solches enttarnt habe und besser lebe. Da gesellt sich das Gefühl dazu, über andere erhaben zu sein. Ich kenne also die Wahrheit, während andere noch im Dunkeln leben. Ein eingefleischter Gläubiger, der auf Lamm, Rind und Fisch nicht verzichten will, wird jedoch genau die Textstellen, die Verse zitieren, die ihn ebenfalls zu einem guten Menschen machen, denn das Opferfest verlangt auch das Opfern von einem Leben. Und auch er wird in seinem Lichte der Wahrheit stehen, während dann, von ihm aus betrachtet, ich im Dunkeln herumdümple: Denn, wie kann ich es wagen, uns Menschen mit den Tieren gleichzusetzen?

Heißt das also, moralisch richtig zu handeln und zu sprechen, hat etwas mit meinen Annahmen zu tun? Die Schwierigkeit eines Perspektivwechsels nach dem Kantischen Prinzip setzt also voraus, dass ich davon ausgehe, dass es keine Wahrheit gibt. Gut, theoretisch wissen wir das schon länger, aber in Wirklichkeit leben wir etwas anderes. Meine Wahrheit nenne ich Grundprinzipien, die selbstverständlich sind, die logisch sind, die allen klar sein müssten. Meine Sprache verschleiert hier, dass es sich wieder nur um Konstrukte handelt, die ich mir schaffe, damit ich für mich moralisch integer bin, für mich und für mein Umfeld, denn von dem Umfeld soll mir widergespiegelt werden, wie ich wünsche, dass man mich sieht. (Ahamkara! Hier sei auf den anderen Blogbeitrag verwiesen.)

Kommen wir kurz auf die Identität zurück – später schere ich bei der Sprache nochmals ein. Ich sehe mich als Mutter, Deutsche (Biodeutsche, denn das scheint noch einmal was anderes zu sein), Frau, Lehrerin, Schriftstellerin, Ruhrpotterin, Europäerin, witzige, unverheiratete, freie, weiße Person. Das alles schafft einen kulturellen auf einen bestimmten Lebensbereich bezogenen Hintergrund. Wie wichtig zum Beispiel meine Herkunft ist, wusste ich erst, als ich 2013/14 in Europa unterwegs war und meine Heimat vermisste. Wenn jetzt alle Deutschen aber wegen ihrer Halsstarrigkeit diskriminiert würden, würde mich das betreffen? Ja, wenn ich mich mit dem Deutschsein identifiziere. Tue ich nicht. Angenommen, Deutsche würden deswegen verfolgt? Dann würde ich sie als meine Brüder und Schwestern schützen. Aber, greift mich das an? Nein. Gerade sagte ich doch, dass ein Teil meiner Identität das Deutschsein sei! Habe ich eine Wahl, mich von dieser Identifikation zu lösen? Und wenn von dieser, kann ich mich dann auch von meinem gesamten Selbstbild, von dem ich will, dass es durch andere mir immer wieder reflektiert wird, lösen? Ich denke, begrenzt geht das, aber meine Stimmlage ist mir genetisch mitgegeben, die kann ich kaum so stark verändern, dass man mich nicht an meiner Stimme wird erkennen könnte. Mein lautlicher Fingerabdruck. Im Kern – so vermute ich – gibt es das auch auf mein Wesen bezogen. Ich kann nur kleine Teile verändern. Und je nach Alter ist das zunehmend mit größerem Aufwand verbunden.

Im Prinzip also müsste doch ein ganz ganz junger Mensch schnell erlernen, was moralisch richtig ist. Falle eins: was ist denn bloß richtig, wenn es keine wirkliche Wahrheit gibt? Falle zwei: wie ist das mit der Genetik? Betrachte ich unser Curriculum für das Fach Praktische Philosophie, sehe ich, dass diese ethischen Grundlagen in allen Jahrgängen thematisch behandelt werden sollten. Diskutiere ich mit Fünftklässlern die Redewendung „Was du nicht willst, das man dir tu, füge auch keinem anderen zu.“, so verstehen sie schon, die Moral von der Geschichte durchaus. Noch in derselben Stunde beleidigt A dann jedoch spontan B, weil B mit dem Stuhl gekippelt hat, falsch geguckt hat, gestern was Blödes zu C gesagt hat oder so zum Spaß (häufige Antwort von beleidigenden Jungen oder Mädchen übrigens),2 natürlich beleidigt B zurück. Das war für A aber zu viel Retour, also wird A handgreiflich und B wehrt sich. Nehmen wir in der Klasse dieses Fallbeispiel, so erfahren wir, dass man sich nicht beleidigen lassen darf, dass man unbedingt zurück beleidigen muss, wegen der Ehre. Auch hab ich schon gehört, dass sei kein gutes Beispiel für die Redewendung oder B nervt einfach und dann kann man nicht anders. Dahinter stecken versteckte Annahmen wie die Absicht zu nerven, zu ärgern, zu empfindlich zu sein oder ähnliches mehr, dahinter steckt das eigene Selbstbildnis, dass es zu verteidigen gilt, dahinter steckt eine kulturelle Prägung, die von den Eltern übernommen wird und erst in der zweiten Phase der Pubertät beginnend (ca. 16-20 Jahre) hinterfragt wird bzw. hinterfragt werden kann. Vielleicht lernen wir erst dann, diese Regel nutzen zu können.

Wenn ich allerdings sehe, welche Politiker unsere Welt lenken, dann denke ich, dass wir längst noch nicht so weit sind, die genetische Anlage des Menschseins zu übersteigen und zu transformieren. Grundsätzlich ist der Mensch in seiner Anlage aggressiv und brutal und will sich und sein Territorium verteidigen, selbst wenn es nichts zu verteidigen gibt. (Zeugnisse: Völkermassenmord, Massentierhaltung, Nationalstolz, Krieg, Zerstörung der Umwelt, etc.). Der Mensch handelt so auf der Basis seiner Gefühle: Neid, Angst, Hass, Missgunst. Unsere Sprache bezeugt unser Sein insofern, als wir diese einfache moralische Sprachregel von Stefanowitsch abgeleitet von Kants moralischen Imperativ nicht umsetzen können, selbst wenn wir ihre Sinnhaftigkeit sogar wünschen. Sie ist vielleicht ein anzustrebendes Ideal. Versuchen? Ja, nur der Versuch macht kluch. Wir wollen ja das Beste in uns und von uns nach Außen zeigen. Doch genauso, wie Videospiele nicht jeden zum Amoklauf treiben und nicht allein dafür verantwortlich sind, dass die Aggression steigt, so lässt sich nicht jeder als Gutmensch kleiden, weil er sprachlich seine Diskriminierungen besser verstecken kann. Die wirkliche Veränderung beginnt weit dahinter, sie beginnt bei der Betonung von Wörtern wie „Schwarzer“, „Mensch mit Einschränkung“ und das beginnt tief hinter der Stirn. Was denke ich über meine (National)Sprache? Was denke ich über Menschen mit Handikaps, mit Deformation, mit sichtbaren und unsichtbaren Makeln? Was denke ich über attraktive, dynamische, erfolgreiche Menschen? Was denke ich über Menschen, die meine Sprache nicht richtig, nicht gut, nicht sicher beherrschen? Was ist für mich typisch deutsch, typisch albanisch, typisch amerikanisch? Welche Vorurteile habe ich? Und wenn ich mich damit auseinandersetze, wenn ich meine Vorurteile als solche Annahmen einer falschen Wahrnehmung entwirre, halte ich mich dann für besser, erfolgreicher, moralischer, richtiger?

Meine Lieben, diese Fallstricke der Moral sind feingesponnen, mögen wir achtsam bleiben und uns sprachlich darin trainieren, uns klarer und freundlicher auszudrücken.


  1. Zu diesem Punkt nach der permanenten Geschlechtlichkeitsfrage ist die „Philosophische Sternstunde“ mit Lisa Eckert sehr zu empfehlen, denn sie stellt deutlich heraus, dass die Geschlechtlichkeit durch das Gendern permanent in den Blickwinkel gerät, wo er nichts zu suchen hat. Das kann ich teilen. Was wir brauchen, wäre eine geschlechtsneutrale Sprache. ↩︎
  2. Bei meinen anonymen Umfragen in Schulklassen kam heraus, dass vor allem Jungen gerne aus Spaß daran, dass sich der andere ärgert, Beleidigungen äußern, den anderen Hänseln und wütend machen. Mädchen tuen das deutlich seltener aus Freude am Ergebnis, aber es kommt vor. Der vermeintlichen Gerechtigkeit willen, habe ich das oben nicht weiter differenziert. Meiner Beobachtung entspricht allerdings auch, dass Jungen deutlich häufiger Scheinkämpfe machen, den anderen körperlich angehen oder ihn beleidigen. Mädchen dagegen berühren sich häufiger freundschaftlich und kümmern sich umeinander. Dieses Klischee wird vor allem von den jüngeren Kindern häufiger bedient. ↩︎

Mein Ich, das liebste Tier in mir. Philosophisches – Allzu Philosophisches

Geneigte Leserschaft, es ist so weit. Widmen wir uns mal wieder einem philosophischen Thema. Wie kann es anders sein, wenn ich im Unterricht mein Lieblingsthema „Die Sprache“ mit jungen Menschen ausarbeiten, bearbeiten und diskutieren darf? Und von der Sprache führt mich der direkte Weg zum Sein und zur Konstruktion von Sein; aber der Reihe nach.

Sich selbst nicht wichtig nehmen?

Einer meiner Lieblingsvideohäppchenmacher (was ist denn Deutsch bitte für eine phantastische Sprache!) auf Instagram ist Antonio Batinovic, er hat ein Post gedreht, in dem er uns verrät, was er seinem zehn Jahre jüngeren Ich gern sagen würde (also dem 20-jährigen Antonio): Nimm dich nicht so wichtig, denn nur du bist dir so wichtig, dass du dich ständig darum sorgst, was andere von dir denken. Bravo, Antonio. Ist das alles? Ich möchte mit euch zu dem Häppchen ein kleines Häppchen herumphilosophieren. Wieso? Wir können gar nicht anders können, als uns selbst wichtig zu nehmen. Zumindest nehmen wir uns sehr ernst. Und das „Wichtig-nehmen“ ist mehr ein „Wichtig-für-sich-sein“. In meinem Film habe ich die Hauptrolle und die sollte ich ernst nehmen, mit dem gebührenden Spaß an der Sache. Lasst uns doch mal schauen, was wir zu diesem ICH in uns sagen können.

Darf ich euch vorstellen: Ahamkara! Ein Teil meiner Selbst mit viel Kraft, viel Macht und vor allem, wie ein schreiend lautes Kind in mir, verlangt ständig Aufmerksamkeit und braucht ohne Ende Streicheleinheiten, Bestätigung und … Grenzen.

Ahamkara und Ahankara (Sanskrit) wörtl.: „Ich-Macher“ (Aham – Kara): das Ich bzw. Ego, das Empfinden eines eigenständigen Selbst, das Gefühl „Ich bin“, Ichbewusstsein, welches Teil der psychischen Instanzen (Antahkarana) ist, die alle geistigen Vorgänge ermöglichen; Selbstsucht; Selbstbewusstsein, Dünkel, Hochmut. Ahamkara ermöglicht das Denken, so dass die Vorstellung eines getrennten Wesens entsteht. Aus dieser Dualität der Subjekt-Objekt-Beziehung entsteht die Täuschung einer getrennten RealitätEmpfindungenWahrnehmungen und Wünsche stehen in enger Verbindung zu Ahamkara.

Ahamkara – Yogawiki

Die Yogis sehen in der Ich-Identifikation eine Gefahr des „SELBST-Verlustes“ und trotzdem auch eine Möglichkeit, diese Welt zu begreifen. Jaja, die da. Marshall Rosenberg rät jedoch aus einem ganz anderen Grund davon ab, sich auf eine Sache oder auf eine Identität festzuschreiben, nicht nur, weil es einschränkt, weil es mich definiert und damit festlegt, was und wer ich bin, sondern auch, weil es Verletzungen des Selbst durch Sprache vorbeugt. Vielleicht war Rosenberg ein Yogi. Auch Harari und viele andere Denker großer Inhalte halten sich bescheiden und finden den Weg in die Meditation, um zu sich Selbst zu finden, vorbei an dem lauten ICH. Es spielt auch keine Rolle, ob man ein Yogi, Zen-Meister oder Buddhist ist, wenn man seinem Gedankenstrom über seine eigene Person Einhalt gebietet. Es ist ein Aspekt der Gesundheit, wenn wir uns nicht mit Selbstzweifeln, Selbstvorwürfen und Hassgefühlen gegen andere quälen. Auch, wenn das nur einen kleinen Teil davon ausmacht, was uns alles durch den Geist zur eigenen Person, Persönlichkeit oder zum eigenen ICH durch den Kopf geistert. Wir beschäftigen uns ständig mit uns selbst: Wie wirkt das Kleid? Wie steht mir die Frisur? Was meint XY, wenn ich morgen Z mache? Wie wirke ich? Bin ich zu „xy“, bin ich zu wenig „xy“? Der Anteil, der sich mit einem anderen Problem befasst, wie das Lösen eine mathematischen Aufgabe, ist deutlich geringer.

Ich frage mich zum Beispiel im Laufe eines Tangoabends verschiedene Dinge, die mir abzustellen, trotz großer Konzentration kaum gelingen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich allein ständig meinen Geist mit all diesen Fragen beschäftige oder ob genau das auch alle anderen Anwesenden in der ein oder anderen Form tun:

  • Phase 1 Zuhause: Wirkt mein Bauch in dem oder in dem anderen Kleid flacher? Bin ich anziehend genug, damit andere mit mir tanzen wollen? Wie trage ich meine Haare dazu? All diese Fragen lassen sich unendlich dehnen. Auch darunter: Hatte ich das Outfit schon zu oft an? Wie oft war ich an dem Ort mit der Klamotte? Wer kommt heute? Wer sieht mich?
  • Phase 2 in der Pause auf dem Stuhl: Wirke ich zu erhitzt, ist mein Gesicht zu rot? Rieche ich vielleicht schon zu sehr? Denk an das Lächeln. Sitz nicht so uninteressiert oder miesepetrig da. Habe ich mich an den falschen Tisch gesetzt? Sehen mich die Tänzer gut genug?
  • Phase 3 von eher Anfängern aufgefordert zu werden: Tanze ich heute für die guten Tänzer zu schlecht. Sehen mich die guten Tänzer nicht? Wie kann ich gleich mal zeigen, dass ich es drauf habe? Bin ich nicht jung genug für die Tänzer? Wenn ich blond wäre, dann würde ich sicher aufgefordert werden?
  • Fragen nach einem schönen, verbindenden Tanz: Wird er mich wieder auffordern? Hab ich einen guten Eindruck hinterlassen? Haben andere das auch gesehen? Schwang mein Kleid schön mit?

Mein ICH und mein SELBST

Der Fall ist klar, dieser Gedankenstrom reißt nicht ab, völlig egal, was um mich herum passiert. Die einzige Rettung für mich (und vielleicht auch für „uns“) ist „Flow“ – fließen. Eins sein mit dem, was ich gerade tue und Ahamkara ist still, nein ICH ist still. Mein Ich schweigt. Stille. Dann bin ich ich selbst in meiner reinsten Form: unverstellt, ungeschminkt, pur, echt. Was also gilt es zu tun? Flow – und das ist ja ganz klar – auszudehnen. Wie aber soll ich das bewerkstelligen, wenn mich doch alles und jedes Ding immer wieder in diesen Ich-Fragen-Zirkel bringen kann und ich mich in Selbstdarstellung und Selbstentwürfen geradezu verliere? Wann kann ich ich sein?

Bevor wir uns weiter mit diesem Gedankenstrom beschäftigen: Wer ist dieses „ICH“ in mir? Es macht ja nicht mein Sein aus, sonst könnte ich mir nicht dabei zuschauen, wie ICH mir all diese Fragen stelle, mir all diese Gedanken durch den Kopf gehen und könnte mich nicht fragen, wie ich das durchbrechen kann. Daneben arbeitet ein Großteil unseres Gehirns ohne bewusste Auftragslage des Gehirns, das heißt, ich muss mir nicht extra bewusst machen, dass ich mich setzen will, dennoch kann ich mir diesen Vorgang Stück für Stück bewusst machen.

Tor Nørretranders vergleicht in seinem Werk „Spüre die Welt“ über das Bewusstsein unsere bewusste Vorstellung von uns selbst mit einer „Benutzerillusion“. In der gleichen Weise, wie „Desktop“ als Ort für meine Dateien auf dem Rechner die Grundlage der „Schreibtischmetapher“ nutzt, ist unser Bewusstsein als Benutzerillusion „unsere Karte von uns selbst und unseren Möglichkeiten, auf die Welt einzuwirken“ (S. 417). Dieses Ich ist keine feste Einheit, sondern auch das Ich, diese Persönlichkeit, ist eine Darstellung, die sich flexibel anpasst und verändert, die reift, wächst und je nach Umständen sich anpasst. Obwohl wir anderes erleben, halten wir uns für eine Person mit einem festen Wesenskern. Dafür sorgt mein Ich schon. Es erklärt mir stets auf’s Neue, wer ich bin, wieso ich so bin, wie ich bin und setzt sich mit mir auseinander, ob ich wirklich so sein muss, ob ich nicht in Wirklichkeit anders bin oder anders sein möchte. Damit sich mein Ich jedoch in dieser Weise auseinandersetzen kann, braucht es das Du und/ oder das Wir. Merleau-Ponty erklärt in der „Phänomenologie der Wahrnehmung“ bereits 1945, dass das Baby sein Ich erst durch die Außenwelt erkennen kann, weil es das DU erkannt und von sich selbst als getrennt abstrahiert. Ein schmerzlicher Prozess, der cira mit zwei Jahren beginnt.

„Die Wahrheit ‚bewohnt‘ nicht bloß den ‚inneren Menschen‘, vielmehr es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt. Gehe ich […] zurück auf mich selbst, so ist, was ich finde, nicht eine Heimstätte innerer Wahrheit, sondern ein Subjekt, zugeeignet der Welt.“

Merleau-Ponty „Phänomenologie der Wahrnehmung“, zit. n. „Man muss sich auf die Welt und die Dinge einlassen“

In „Spüre die Welt“ erklärt uns Nørretranders, dass das Bewusstsein eine neue Erfindung unseres Geistes ist, nicht älter als vielleicht 2000 oder 3000 Jahre alt. Er führt als Beleg das Entstehen des Monotheismus an und vergleicht den Glauben an den einen Gott mit dem sich im Geiste entwickelnden einem ICH. Die Behauptung steht im Raum, dass das Ich die Beschäftigung des Geistes ist, damit der „Rest“ des Organismus‘ in Ruhe arbeiten kann, ohne ständig unterbrochen zu werden. Viele Studien, neurologische Untersuchungen folgen. Meine geneigte Leserschaft, ich kann nur sagen, dass sich beide Werke wirklich lohnen, aber es sind ganz schöne Brecher, mit beiden kann man einen Menschen sogar wörtlich erschlagen.

Wo schaltet sich für dich bzw. für mich dieser Fragenzirkel aus?

Ich denke nach:

  • beim Spielen, also im günstigsten Fall beschäftigt mich das Spielen so sehr, dass ich gar nicht darüber nachdenke, ob ich jetzt witzig genug, gescheit genug, geheimnisvoll genug oder ähnliches wirke.
  • beim Tanzen, wenn ich mich konzentriere auf den Moment und tatsächlich nicht zulasse, dass der Gedankenstrom mich einfängt (was er nur dann nicht mehr tut, wenn der Tanz mich herausfordert)
  • bei der Meditation – manchmal.
  • beim Lauschen sitzend in der Natur gelingt es mir auch manchmal für Momente.
  • beim Schreiben, wenn ich eine Geschichte erzähle. Was soll ich da über mich nachdenken, da habe ich ja Figuren, über die ich Nachdenken kann.

Nach den Yogis ist dieser Zustand, in dem wir uns dann befinden, der Zustand des Selbst. Das Selbst ist mehr als nur das Bewusstsein oder die Projektion eines ICH. Das Selbst ist die Verbindung zu dem, wonach wir uns alle sehnen. Vermutlich? Nun Platon erklärte, dass wir in dem Unvollkommenen die Idee entdecken, weil wir aus der Ideenwelt stammen. Der Grund, weshalb Platons Lehre auch die Christianisierung überdauern konnte. Die Christen erwarten eine Erlösung und den Einzug ins Paradies, wenn man sich im Leben bewehrt hat. Das lässt sich ebenfalls als Rückkehr betrachten (Paradies, Sündenfall, Paradies). Irgendwann im Leben gibt es Momente, da sich zeigt, dass es irgendwie mehr gibt, als das was wir verstehen, dass die Welt vielleicht nicht so ist, wie sie uns erscheint, dass mehr hinter allem steckt. Die meisten von uns erfasst ein Sehnen und ein Hoffen, dass da noch etwas ist, was wir jetzt nicht erkennen. Die meisten nennen das Gott.

Albert Camus spricht oft von der empfundenen Leere, die dazu führt, dass man im normalen Trott des Lebens innehält und sich der Absurdität des Lebens bewusst wird, bevor man weitermacht. Diese Leere sind Haltemomente, in denen wir erkennen können, dass die Welt anders ist. Camus sprich hier von „Fremde“.

Konstruktion – Dekonstruktion – Konstruktion

Gehen wir wieder ein Schritt zurück: Merleau-Ponty erklärt uns anschaulich, dass ein Baby in die Welt geworfen sich als Teil der Mutter versteht, erst dadurch, dass „Mutter“ nicht funktioniert wie der Arm und der Mund und das Bein, erst durch begreifen von Umwelt, lernt das Baby, dass es neben dem Eins-Sein als Wir eine Abstraktion davon gibt, das DU. Mit der wachsenden Erkenntnis, dass es ein DU gibt, erlebt das Kind sich als Ich. Inzwischen geht man in der Forschung davon aus, dass die erste Trotzphase und die Alptraumphase mit zwei Jahren unmittelbar mit diesem Erkenntnisprozess verknüpft ist. Die zweite große Trotzphase beginnt mit ca. 12 Jahren und die nennen wir Pubertät; hier entwickelt sich eine neue Dimension von Ich-Bewusstsein. Man könnte sagen, dass die erste Stufe ein Vor-Bewusstsein ist, in dem ich nicht über mein Wirken, mein Sein und mein Handeln nachdenken muss. Durch die Pubertät erhalte ich als neues Tool sozusagen die Selbstreflexion. Damit geht einher, dass ich auch meine Zukunft plane und überlege, wann was angebracht ist. Lebte ich bis dahin eher von Tag zu Tag, machte mir um die Fülle des Kühlschranks wenig Sorgen (es sei denn, meine Lebensumwelt verlangt dies), so passiert es, dass ich jetzt darüber nachdenken kann und jetzt auch trotz Fülle an ein Übermorgen denke.

Dies ist die Geburt der Konstruktion meines Ich, meines Selbst und meines Seins.

Das passiert nicht alles auf einmal, dafür habe ich in unserer Gesellschaft richtig viel Zeit, zehn bis dreizehn Jahre sogar. (Ich denke, der Prozess wird beschleunigt, wenn in dem Entwicklungsprozess eigene Kinder kommen, der junge Mensch früh für sich selbst real verantwortlich ist – Arbeiten, selbständig Wohnen und Leben, Kinder versorgen, etc.) Was aber konstruiert mein ICH denn überhaupt? Auf der Basis von Erfolg und Misserfolg mit Handlungen entwickelt das Ich Strategien. Was funktioniert, wird weiterhin methodisch genutzt. Habe ich gelernt, dass Charmeeinsatz nützlich ist, baue ich diese Fertigkeit aus, habe ich gelernt, dass unsichtbar machen eine gute Methode ist, werde ich das ausbauen. Daraus bildet sich dann ein Charakter oder eine Persönlichkeit. An dieser Stelle die Anmerkung sei erlaubt, dass die Person bei den alten Griechen mit „Maske“ übersetzt war, also etwas, hinter das man sich Selbst verbarg. Mein Selbst also bleibt hinter der Persönlichkeit verborgen.

Natürlich bin ich nicht meine Einstellung zu Geld, zur Natur und so weiter, aber es gehört auch zu mir, es ist ein Teil meiner Selbst, macht mich jedoch nicht aus. Schauen wir genau in uns hinein, dann sehen wir auch, dass Charme, Geiz, Ablehnung ebenso wie eine körperliche Einschränkung oder wie eine Erkrankung uns zwar formen und uns beschäftigen, aber nicht immer in gleichem Maße. Im Winter macht mich eine Depression handlungsunfähiger als im Sommer, manchmal ist die Arthrose in den Gelenken schlimmer als an anderen Tagen. Den Einfluss jedoch kann ich nicht abstreiten. Wenn ich also gelernt habe, dass man auf meine Krankheiten Rücksicht nimmt, dann können sie trotz Einschränkung vorteilhaft genutzt werden. Außerdem habe ich die Möglichkeit, über eine Krankheit mich selbst in irgendeiner Form darzustellen. Ahamkara meldet sich also und drückt sich kommunikativ aus.

Bei Jugendlichen entwickelt sich die Persönlichkeit vor allem durch extreme Herausstellung von Besonderem; Krankheit, Ereignisse und Hobbys. Da Jugendliche wenig bedeutende Erlebnisse haben – außer welchen, über die sie nicht so gerne sprechen -, Hobbys entweder zu unbedeutend finden (Musikinstrument Lernen, Fußballverein oder sowas ist eher nicht besonders) oder gar keine haben, werden körperliche Merkmale hochstilisiert, zumal Körperlichkeit ohnedies eine zentrale Rolle einnimmt. Was funktioniert, wird beibehalten und so beginnt das Konstrukt vom Ich. Durch die zunehmende Selbstreflexion und dem erschütternden Moment der Leere begünstigt, fragt sich ein junger Mensch (mit viel Zeit) immer wieder, wer er sei. Junge Menschen kommunizieren nun diese Frage und all ihre Vorstellungen davon oder behalten sie vollständig für sich, gleichzeitig werden die Freunden nicht müde, Feedback zu geben, sowohl für das erste wie auch für das letztere Verhalten. Gleichzeitig dient das Feedback zur Bestätigung der Selbstwahrnehmung und testet das Konstrukt auf Stabilität. Die Welt um uns konstruieren wir gewohnheitsgemäß basierend auf unseren Sinnen. Unsere Beziehungen konstruieren wir ähnlich. Fehlende Kenntnis füllen wir durch Interpretation. Wenngleich wir aus eigener Erfahrung wissen, dass wir keine feste Persönlichkeit haben, so halten wir uns doch für formstabil und setzen gerade bei anderen voraus, dass sie immer so sind, wie sie jetzt sind. Dabei verhalten sich Menschen eher durchgängig irgendwie, behalten aber selten eine Meinung ihr Leben lang, verlagern Werte, Vorlieben, etc. Das wiederum bauen wir in unser Konstrukt als Phasen ein. Auch hier ahnen wir manchmal, dass es anders ist, aber im Fluss der Ereignisse wird diese Ahnung überspült. Beziehungen konstituieren sich auch nicht nur aus dem Bild, was ich vom Gegenüber habe, sondern auch auf etwas, was zwischen uns passiert. Wie unsichtbare Fäden sind wir miteinander verwoben und spielen an den gleichen Stellen unterschiedlich auf ihnen. Meine Frage nach Ordentlichkeit wird in Beziehungen durch das Feedback an den Fäden beantwortet, meine Korrektur entweder beim Maß an Ordentlichkeit oder meiner Einstellung zur Ordentlichkeit ist maßgeblich daran gebunden. Lebe ich mit einem Menschen zusammen, der sehr ordentlich ist, erlebe ich dadurch permanent Konflikte, zeigt sich lebensweltlich um mich in anderen Menschen um mich herum, dass Ordentlichkeit ein hohes erstrebenswertes Gut ist, so werde ich sicherlich eher mein Maß an Ordentlichkeit optimieren und anpassen. Lebe ich mit einem Menschen zusammen, dem Ordentlichkeit mehr bedeutet als mir, sind alle Menschen um mich herum ohne dieses hohe Gut an Ordentlichkeit ausgestattet, werde ich vermutlich daran arbeiten, dass der andere toleranter wird. Bin ich hingegen der Ordnungsbedürftigere, übe ich entsprechend meiner lebensweltlichen Erfahrung mehr Druck aus oder übe mich stärker in Toleranz und Akzeptanz. Je nach dem, mit welchen Menschen ich mich umgebe, verändert sich auch meine Persönlichkeit. Ich konstruiere unterschiedliche Beziehungsstufen, ich konstruiere unterschiedliche Wichtigkeiten und passe mein Ich an. Mein Ich wiederum entwirft von den Menschen in meinem Umfeld gemäß persönlicher Erfahrungen und begründet in der Historie ein Bild, ein Bild für diese spezielle Beziehung. Diesem Entwurf entspricht diese andere Person mehr oder weniger, denn auch sie passt sich diesem Bild an – gemäß unserer Beziehungsstruktur.

Dümpel dümpel dümpel … alles nur Theorie – mausgrau und schlammig

Ich lese in Foren, wie man eine Veröffentlichung plant, organisiert und lenkt. Ich versuche es nachzuvollziehen und zu praktizieren, doch immer ist der Termin gerade falsch, die Reihenfolge stimmt nicht, habe gerade was verpasst, den falschen Button angeklickt oder irgendeinen Schritt ausgelassen oder vergessen. Ich komm mir vor wie in einem Teich, ohne irgendwie vorwärts zu kommen. Es geht natürlich und selbstredend um meinen Roman.

Eine Kladde voll guter Ideen hab ich, schon allein die Grillparty für die ersten Lesenden meines Romans und daraus eine Bewertungsmaschine für diverse Plattformen zu generieren, halte ich für einen guten Plan.

10 gute Gründe, wieso man meinen Roman lesen sollte:

  1. Die Geschichte spielt im Ruhrgebiet und erzählt von einem Szenario, dass auch ohne den Ausbruch der Pandemie passieren könnte.
  2. Das Sterben des Mannes ist weder Rache noch Sühne, es ist tragisch und bedauerlich und wird auch so von den Charakteren erlebt. Doch die Frage ist, was tut der Mensch dann?
  3. Die Geschichte wird humorvoll erzählt. Man kann lachen. Wortwitz, Situationskomik und teils groteske Figuren.
  4. Viele philosophische Ansätze sind in der Geschichte enthalten, die einfach erklärt werden. Mittendrin wird auch noch ein Theaterstück inszeniert und diskutiert.
  5. Frauenthemen, Männerthemen, Frauenhass, Männerhass – all das findet von verschiedenen Perspektiven eine Beleuchtung, wird gerade zu ausgeleuchtet.
  6. Die Geschichte ist am Schluss final erzählt. Der zweite Teil ist von diesem insofern unabhängig, als dass andere Figuren Hauptcharakter sind (ähnlich wie in Bridgerton).
  7. Die handlungstragenden Charaktere wie Emma, Paul, Elvis, Jacek, Miri, Anna, Mani, Waldemar, Martina, etc. sind vielfältig und mehrdimensional angelegt.
  8. Anchels T-Shirt-Sprüche sind ein witziger Beitrag zum Tagesgeschehen.
  9. Man erfährt vieles über das Ruhrgebiet, den Bergbau, die stillgelegten Stollen, medizinische Fakten, politische Entscheidungen, Obduktionen, etc.
  10. Multi-Perspektivischer Blick auf eine Liebesgeschichte; wer beurteilt was wie und überhaupt?! Kommunikationen, Bedürfnisse und den daraus erwachsenden Problemen. Und das Ende ist sogar romantisch zu nennen.

Mein Eindruck, ich komm nicht vorwärts. Egal, was ich tue. Jetzt muss ich diese Woche die Klausuren fertigmachen und die Korrektur des HC abschließen, dann geht es weiter. Und es gibt doch so viele Erfahrungsberichte, so unendlich viele, wieso mach ich immer die falschen Schritte? In diesem Sinne: Ich denk mal positiv und sag: es wird!!!

Das Wagnis mit dem Fremden — Berührung, Körperlichkeit und die Tangomanie

Liebe Lesegetriebene, heute möchte ich euch den Tango näher bringen. Nicht Tangoschritte, keine Tangomusik, sondern das Besondere der Tangomanie.

Aufgespannt zwischen Angst und Neugier als zwei Triebkräfte des Lebens erwägen wir, wie viel Risiko wir eingehen und mit welchen Konsequenzen wir leben wollen. Im Theaterspiel gibt es Übungen, die die Spielenden in Wagnisse stürzen, die im geschützten Raum nur ein Schein-Risiko darstellen. Schein-Risiko meint hier, dass man natürlich weiß, dass man nicht blind ist, wenn es gilt, die Augen zu schließen, um für die nächste Übung ohne Sehkraft zu arbeiten. Die Erfahrungen daraus sind jedoch echt. Das bedeutet, dass ich tatsächlich in Stress gerate, weil ich ein Geräusch nicht zuordnen kann, dass ich mich schutzlos ausgeliefert fühle, weil ich nicht fliehen kann wie ein Sehender oder eine Sehende. Diese Erfahrungen oder diese Empfindungen kann ich mir bewusst machen. Durch dieses mir Bewusstmachen eigne ich mir diese Erfahrung an und kann sie auch als Sehende nutzen. In der Regel kennen sich die Mitglieder einer Theatergruppe. Wenn eine Übung wie „blindes Huhn“1 angeleitet wird, ist das eine Herausforderung und kann als Grenzerfahrung erlebt werden, doch eine solche Übung wie zum Beispiel „blindes Huhn“ würde ein guter Spielleiter nicht zu Beginn einer neuen Gruppe anleiten. Wir haben bei einer Theatergruppe ein Mikrokosmos, der zwar nach den gesellschaftlichen Regeln funktioniert, doch innerhalb dieser Welt auch eigene Regeln aufstellen kann, die eine größere emotionale und körperliche Nähe zulassen, als das sonst üblich ist. Unser Wagnis ist damit kalkulierbar.

Anders sieht das aus, wenn wir uns einem Risiko aussetzen, der in der realen Welt spielt. Das Wagnis ist größer, wenn ich auf einer Tanzveranstaltung mich dem Fremden aussetze, denn ich riskiere damit auch immer gleich eine gesellschaftliche Verwundung. Ist diese Wunde aber wirklich so groß? In unserer Welt könnte man denken, ist das eigentlich nicht wirklich so, denn bei einem totalen Gesichtsverlust kann ich die Gruppierung verlassen, eine neue suchen und mit dem Bündel an Erfahrung von vorne beginnen, außer eine öffentliche, digitale Demütigung würde mich verfolgen. Tango aber findet in der realen Welt statt und Tango hat eine kleine Gemeinde von Besessenen.

Versetzen wir uns in die Situation einer Tango-Tanzveranstaltung, getanzt wird Tango Argentino.2 Dies bedeutet, zwei Menschen tanzen auf einer Tanzfläche gemeinsam mit weiteren Paaren eine nicht-einstudierte und nicht-abgesprochene Folge von Tanzschritten, indem eine Person führt und die andere folgt.3 Die führende Person denkt sich passend zur Melodie und zum Rhythmus Muster und Schritte aus, die sie der folgenden Person durch das Regelkonzept „Führung durch die Brust bzw. über die Körpermitte“ vermittelt. Klingt kompliziert, ist auf keinen Fall einfach. Es ist ein Tanz der Achtsamkeit, weil beide sich aufeinander einlassen und konzentrieren müssen.

Auf einer Milonga4 – also der Tango-Veranstaltung – tanzen Paare, die sich kennen, miteinander, zum Beispiel aus dem ein oder anderen Kurs kennen miteinander. Manche Tanzpartner hat man zwar schon mal auf der einen oder anderen Veranstaltung gesehen, aber weder mit ihr gesprochen, noch mit ihr getanzt. Anders als bei Tanzbällen, finden hier dennoch Begegnungen auf der Tanzfläche als Erstkontakt statt. Anstelle eines ersten Kennenlernens steht man sich plötzlich Fuß an Fuß, Leib an Leib und Arm in Arm gegenüber, nimmt den Geruch des anderen nach Schweiß, Seife, Parfum, Waschmittel, Rasierwasser, Hautcreme, Atem-Erfrischer, Bier, Wein, Zigarettenrauch als komplexes Ganze wahr und ist in diesem Moment ausgeliefert, denn schon die Höflichkeit verbietet ein Weglaufen. Manchmal erfährt man erst nach dem ersten Tanz den Namen seines Gegenübers. Nun entscheidet sich in dem Moment, ob nah oder distanziert getanzt wird. Für mich ist das deutlich vom Geruch und von der Schweißmenge abhängig. Diese Nähe im eigenen Intimkreis ist ungewöhnlich. Wir lassen sie nach den Regeln des Tango-Gesetzes zu und akzeptieren, dass uns ein absolut fremder Mensch ca. 12 Minuten lang uneingeschränkt nah ist. Natürlich gibt es Momente, die erotisch konnotiert sind, aber entgegen den Gerüchten ist dies nicht die Regel. Auch kommt es vor, dass nach mehrfachem gemeinsamem Tanzen der ein oder andere „Fremde“ denkt, dass sich mehr entwickelt hätte und neigt zu Vertraulichkeit (Kuss auf die Wange, mit Fingerspitzen die Wirbelsäule oder am Nacken streicheln, vertraulich die Wange anschmiegen, etc.), aber selbst das hat eine geregelte Grenze und ist nicht die Regel.

Brunnen – der zum Spielen einlädt

Wieso aber setzen wir uns diesen „Gefahren“ aus?

Tango Argentino ist in unserer Zeit und vielleicht auch nur in der westlichen Kultur insofern besonders, weil zum einen die beiden Tanzenden sich auf einen teilimprovisierten Tanz einlassen und nicht wissen, was sie erwarten wird, und zum anderen auf Milongas (den Tanzveranstaltungen) die Regel herrscht, dass man mit auch vollkommen fremden Menschen tanzen kann/ darf/ dazu bereit sein sollte. Was für den Tango gilt, mag in Ausnahmen auch für andere Tänze wie zum Beispiel Salsa gelten, doch ist das nicht zu verwechseln mit Standard und Lateinamerikanischen Tänzen, da man in der Regel (es gibt sicher Ausnahmen) mit einem festen Partner tanzt, vielleicht auch in einer festen Gruppe.

An einem Tangoabend tanze ich in der Regel drei Stunden, vielleicht sitze ich davon zwei Tandas, also ca. 8 Tänze lang, vielleicht komme ich an einem Abend auf sechs bis zehn unterschiedliche Tänzer. Einige davon sind mir bekannt, manche mit mir befreundet, in die dritte Kategorie gehören die mir Fremden. Nicht jede Tanda ist ein Genuss, dennoch überwiegt ein anderer Reiz, hat geradezu Suchtcharakter. Ich mutmaße, dass die Nähe und die Körperlichkeit eine Ruhe und Zufriedenheit in mir auslösen, dass ich mich entspannen kann. In Gesprächen mit Tanzpartnern nannten sie ähnliche Erfahrungen. Es macht glücklich. Natürlich, durch die Berührung wird Oxytocin ausgeschüttet und das sorgt für Wohlbefinden und Gesundheit. Die Bewegung zu Musik, die Achtsamkeit miteinander und die gefühlte Verbindung sind aber mehr – so bilde ich mir ein – als eine gute Ausschüttung des Kuschelhormons. Nicht immer fühlt man die Verbindung im gleichen Maße, doch latent scheint sie uns alle zu bewegen. Und ich stelle an mir fest, dass ich mehr Intimität (ohne Sexualität) mit Menschen will, statt oberflächliches Einerlei, statt Smalltalk und Schein-Verbindung.

Es führt ganz sicher zu einem intimeren Miteinander, zumindest geht mir das so mit meinen Tangomenschen. Umarmungen werden selbstverständlicher, körperliche Nähe wird selbstverständlicher, Freundschaft wird selbstverständlicher. Auf der Tanzfläche werden die Gespräche intimer, privater, je häufiger man miteinander tanzt. Doch nicht alle Menschen tanzen, nicht alle Freunde sind tangomane Menschen. Natürlich sind auch diese in der Lage, andere zur Begrüßung oder zum Abschied zu umarmen, doch ist es weit weniger selbstverständlich, sich innig zu umarmen. Treffe ich auf meinen Tanzpartner, so ist die erste Umarmung innig und andauernd, treffe ich auf meinen Spielkollegen, dann ist die Umarmung eine gesellschaftlich akzeptierte auf Abstand gehaltene Andeutung einer Umarmung, obwohl unsere emotionale Nähe ähnlich intensiv ist.

Ich möchte einen Schritt weiter gehen (gedanklich) und frage mich, ob nicht wie bei „blindes Huhn“ auch hier nur ein Schein-Risiko vorliegt. Ist es nicht vielmehr so, dass wir glauben, gesellschaftlich was zu riskieren, wenn wir nicht den Schein wahren? Was passiert uns denn, wenn wir körperliche Nähe zulassen? Was passiert uns, wenn wir laut sprechen, laut lachen und raumgreifend sitzen? Wovor haben wir Angst? Wieso haben wir Befürchtungen, was der andere denkt? Ich denke doch auch, was ich will. Ich kommentiere im Kopf alles Mögliche meines Gegenübers, manchmal sogar durch meine Mimik, aber letztlich wird es mir doch nur dann wichtig sein, wenn mir der Mensch wichtig ist, auf den diese Gedanken bezogen sind. Also umgekehrt interessiert mich doch wirklich von den wenigsten Menschen, was sie zu mir denken und das ist dann der Fall, wenn ich eine Beziehung mit ihnen habe. Und wenn mir der Mensch wirklich wichtig ist, dann sind die Gedanken eine Mischung aus Wohlwollen und Kritik. Ebenso wird es umgekehrt sein. Manchmal enthalten sie Sorge, manchmal Eifersucht, manchmal Neid. Aber es sind meine Gedanken und aus diesem Grund auch in der Regel ungeäußert. Andere werden über mich ähnliches denken. Wenn mir die Menschen, die da denken, wichtig sind, würde ich dem Gewicht beilegen, wenn sie ihre Gedanken äußerten. Nicht immer tun sie das, also weiß ich oft nicht, was sie denken. Mir ist bewusst, dass wir davon ausgehen, dass aus den Gedanken mehr resultieren wird und dieses „mehr“ ist so undefiniert wie der Tango mit dem Fremden.

Mich umgreift innerlich immer häufiger der Gedanke, dass ich eigentlich sein könnte, wie ich will ohne unumstößliche Konsequenzen zu provozieren. Wenn die Menschen von einer Person wie Trump, Putin oder Hitler geleitet werden wollen, dann spielt doch ohnehin keine Rolle, wer ich bin oder wie ich mich gebe. Es ist ein Spiel und in meinem Universum bin ich die einzige, die mit ihren Gedanken, den Konsequenzen des Handelns und den jeweils veränderten Bedingungen leben muss. Aber ich muss das alles auch, wenn sich die Rahmenbedingungen im Außen gravierend verändern (Umweltkatastrophe, Krieg, Seuche). Woher kommt diese Angst? Und wie komm ich wieder in das Paradies der unbegrenzten Möglichkeiten? So gern wäre ich ein Bonobo.

Das menschliche Miteinander erfordert Regeln, das ist ebenso alt und verankert in unsere Gesellschaftsbildung wie das Kultivieren von Ritualen für alles Mögliche: Phasierung des Jahres, Initiation für die Jugend, Verhaltensweisen, etc. Eine uralte Ausdrucksform, die an Regeln und Rituale gebunden ist, ist das Tanzen. Das Tanzen verlangt wenigstens zwei Dinge: Den Wunsch nach einem irgendwie gestalteten Miteinander zunächst einmal ohne die Absicht von sexueller Verbindung und das Vermögen, Musik zu hören, zu verstehen (also als Kette und Zusammenhang von Lauten zu begreifen) und in Bewegung übertragen zu wollen. Nicht jedem Lebewesen auf unserer Erde ist das Geschenk der Musik gemacht worden.

Eine emotional-körperliche Verbindung ohne sexuelle Absicht

Wenn ihr Frieden wollt und wissen wen ihr lieben sollt
Fallt dem Schwarm in die Arme, denn das zieht euch wieder hoch
Euer Yin und Yang hat doch keinen Sinn und Zweck
Immer nur links und rechts, immer nur Krieg und Schecks
Doch es gibt kein Netz und es hat nie eins gegeben
Alles in Scherben und jetzt war’s wieder keiner gewesen

Also fegt jetzt zusammen, nehmt euch zusammen
Vergesst euer Programm und legt euch zusammen
Wiederstand ist zwecklos, nach unserer Erfahrung
Es stimmt was man sagt, Ihr habt echt keine Ahnung
Echt keine Ahnung
Null (null, null)
Zero

Fantastischen Vier, Die Lösung (2010)

Im Mittelalter dominierten strenge Regeln das Miteinander. Annäherung an das andere Geschlecht waren mit unzähligen Regeln behaftet. Der gesellschaftliche Tanz bot eine Möglichkeit der Annäherung, ein gesellschaftlich gestattetes Beschnuppern unter der Beobachtung vieler. Sicherlich kam es zu erotischen Emotionen, denn wenn man die Berührung auf ein Minimum reduziert, werden diese wenigen Momente des Kontakts zu ganz besonderen Ereignissen, jedoch wird nicht jede Begegnung Glücksgefühle ausgelöst haben. Noch heute gibt es in unserer Gesellschaft eine Intimitätsgrenze, die zwar von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe variiert, aber doch vor allem eine gewisse körperliche Schutzzone errichtet. Wir lassen Menschen unterschiedlich nahe an uns heran, was damit einhergeht, ob wir die betreffende Person gut oder weniger gut kennen. Die Sympathie und die gesellschaftlichen Regeln ergänzen diese Grenzen. Aber wir wollen körperliche Verbindungen eingehen. Wir sehen das bei den Kindern schon, wie sie miteinander kuscheln, als Geschwister beieinander schlafen und ganz ungezwungen mit ihrer Körperlichkeit umgehen, solange sich die Erwachsenen nicht bewusst oder unbewusst (wertend) einmischen. Dann erleben wir die Pubertät, der Rauswurf aus dem Paradies der Unschuld und der ewigen Fragerei im Kopf, ob wir gut genug sind, ob wir geachtet werden, ob wir zu weit gegangen sind, ob wir hätten weitergehen sollen, ob wir attraktiv sind, ob wir was verändern müssen, ob unsere (Schönheits-)Maßnahmen greifen, etc. Wir sind uns – ganz banal gesagt – unserer Nacktheit bewusst. Schlimmer noch, wir wissen, dass wir nackt vor die anderen treten und verschleiern unsere Nacktheit durch Worte, die doch offenlegt, was wir wollen. Je nach dem, wie geschickt wir sind, gelingt es uns auch mehr oder weniger zu blenden. Und wir sind alle gefällig, lassen uns blenden oder spielen in aller Höflichkeit das Spiel nach den Regeln mit, damit wir Anerkennung, Liebe und damit Zugeständnisse erfahren.

Vielleicht wäre die Lösung, uns selbst zu Bonobos zu kultivieren.

  1. Die Hühner sind blind, können sich normal bewegen, ein Jäger kann sehen, darf nur kleine Gänseschritte machen und muss bei jedem Schritt ein „Piep“ als laut angeben. Wenn er ein Huhn gefangen hat, hakt sich das Huhn dann mit offenen Augen bei ihm unter, und sie jagen fortan zusammen, bis alle Hühner eingefangen sind. ↩︎
  2. Bereits wenn man einen Tango-Argentino-Kurs besucht, erlebt man, dass die Tanzpartner gewechselt werden, um das Erlernte nicht nur mit seinem eigenen Tanzpartner tanzen zu können. In einem Standardtanzkurs lerne ich gemeinsam mit meinem Tanzpartner eine Rumbatanzfolge und studiere sie mit ihm ein. Er übt für sich, ich übe für mich und dann tanzen wir das miteinander. Im Tangokurs bekommen wir ein Tanzmuster gezeigt, der wie ein Baustein verwendet werden kann, der kein Zwang hat, irgendwo platziert zu sein, damit eine bestimmte Abfolge funktioniert. Dieses Tanzmuster verlangt eine ganz klare Führung und ein klar definiertes Folgen, eine bestimmte Körperhaltung, eine bestimmte Achtsamkeit und eine Konzentration aufeinander. Erst wenn ich diese Abfolge auch mit x-beliebigen anderen tanzen kann, habe ich sie verstanden. An der Stelle die kurze Anmerkung: Bei üblichen Tanzkursen zu Walzer und Co neigen Partner dazu, sich zu streiten, weil der andere nicht macht, was er soll. Sie versteht ihn nicht, er versteht sie nicht, beide sind davon überzeugt, dass sie es richtig(er) machen, dass sie den Rhythmus halten, dass sie es besser verstanden haben, etc. Im Tangokurs deckt sich allerdings auf, dass beide die Figur nicht tanzen können oder nur in Teilen und dass der oder die Einzelne jeweils ganz eigene Baustellen hat, an denen es zu arbeiten gilt. Plötzlich stellt man bei sich fest, dass man den Rhythmus nicht wirklich erkennt und muss das trainieren, stellt fest, dass man die eigene Achse nicht halten kann, dass man den Fokus nicht halten kann oder ähnliches mehr. Tango ist also auf jeden Fall eine Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit sowie den eigenen Möglichkeiten und Grenzen. ↩︎
  3. Jaja, das ist sehr patriarchal, theoretisch. In unserer Welt ist es aber auch der Raum, in denen Männer die Kraft ihrer Dominanz trainieren und schauen, ob sie eher zu den einladenden Tanzräumen neigen oder die Tanzfläche beherrschen. Ein Tanzlehrer sagte einmal, dass es die Rolle Butler und Polizist gäbe, klare Anweisung oder freundliche Einladung. UND, in diesen Kreisen kommt es häufig vor, dass die Frau auch die führende Rolle lernt (vermehrt Männer auch die Folgende), so dass hier nicht immer eine Mann-Frau-Situation gegeben ist. Letzter Punkt dazu: Es ist als Folgende sehr schwer zu lernen, wirklich nur und genau nur das zu tun, was gerade gefragt wird und nicht schon mal die Figur zu tanzen, weil man meint, man habe sie erkannt, oder schon mal vorzutanzen oder noch irgendwas anderes zu machen. Vorauseilender Gehorsam sozusagen. Frauen bzw. Folgende (gilt auch für Männer) müssen erst mühsam lernen, zu warten. Schon aus diesem Grund wird in vielen Tanzstunden der Partner gewechselt, damit man auch weiß, wie sich die Führung von jemand anderem ausnimmt und man erkennt: „Ah, da hab ich nicht aufgepasst.“ und „Oh, ich kann das doch!“ Als Führende ist es ein hartes Brot, sich die nächsten Schritte zu überlegen, den Raum in seiner Fülle (da tanzen noch andere) zu organisieren und dann noch Rhythmus und Mensch zu führen. Das ist nicht so leicht, wie das von außen erscheint. Von Männern verlangt es die Klarheit, dass sie wissen, was sie tun. Also da liegen viele persönliche Lernmöglichkeiten. ↩︎
  4. Auch das kurz erklärt: Auf diesen Abendveranstaltungen oder Tanznachmittagen (es gibt beides) wird in der Regel klassische Tangomusik gespielt. Warum? Weil man dort den Takt gut hört. Es werden alle drei Tanzstile abwechselnd eine Tanda gespielt. Das heißt: Eine Tanda besteht als Einheit aus drei oder vier Liedern (legt der DJ fest), die zu einem Tanzstil gehören und in der Regel ähnlich sind. Es gibt drei Tanzstile: Tango Klassik, Walz und Milonga. Richtig, die Milonga ist sowohl der Name für die Tanzveranstaltung als auch für einen Stil. Wieso? In Argentinien tanzen die Tangieros lieber Milongas. Was ist der Unterschied der Stilarten? Walz ist mit dem Walzer-Rhythmus ein bisschen komplexer zu tanzen, allerdings ist es das gleiche Tempo in seiner Tanzform wie der klassische Tango. Der klassische Tango ist der, den man zu Anfang in den Tanzschulen lernt. Milonga ist der schnelle Tango. Er ist aber nicht nur schneller, er ist auch rhythmisch etwas anders und er wird noch mehr im Knie getanzt, weil man schnellere Wechsel hat. Eine Milonga-Tanda besteht immer nur aus drei Stücken. Der DJ arbeitet nun folgender Maßen (also in der Regel): 3-4 klassische Tangos, Cortina (Unterbrechungsmusik), 3-4 Walz, Cortina, 3-4 klassische Tangos, Cortina, 3 Milongas, usw. Walz und Milongas werden also seltener getanzt. Die Cortina, also die Unterbrechung zwischen den einzelnen Tandas erfolgt, damit sich die Paare zu ihren Plätzen begeben und neu zusammenfinden. Manche DJs spielen kurz ein Zwischenlied an, andere spielen ein vollständiges Lied. Es hängt von der Lokalität bzw. vom Anlass ab. ↩︎

„Beklaute Frauen“ – Rechte und Pflichten einer Frau … Wer bin ich?

Geneigte Leserschaft, bin ich eine Frau oder ein Mensch? Was zuerst? Das eine weniger als das andere? Habe ich eine Natur oder unterdrücke ich die Natur zugunsten der Kultur? fühle mich oft zunächst als ICH, geschlechtsneutral, vielleicht auch wesensneutral. Gern bin ich eine Frau, weil das einfach viel mehr Wunder enthält. Vielleicht würde ich das anders sehen, wenn ich alternativ nicht-frau sein kann, aber das ist mir nicht gegeben. Als Frau bin ich aber auch nur eine Ausprägung von verschiedenen Formen und könnte, abgesehen von dem Faktor Kinder-bekommen, genauso gut ein Mann sein. Zumindest von außen betrachtet. Natur und Kultur zu kontrastieren, lohnt sich auch nicht wirklich, denn wir können das eine nicht von dem anderen ablösen, ohne immer auch das andere schon zu berühren. Genetisch ist dem Menschen anhaftend, dass er ordnet, strukturiert, sich aneignet und seine Umwelt kultiviert. Diskutiert eine Ameise ihre Position im Staat?

Muss ich „ja“ sagen, wenn ich nicht „nein“ sage?

Muss ich „ja“ sagen, wenn ich nicht „nein“ sage?

Ich weiß, ich habe die Frage wiederholt. Sie hallt in meinem Kopf nach. Wie ist das genau gemeint? Ich wollte Kinder, alle drei. Hätte gerne mehr genommen, doch dazu braucht es manchmal zwei Menschen, die das wollen … zumindest in unserer Gesellschaft. Ich wollte diese drei Kinder auch nicht bekommen, damit sie von anderen betreut werden, obwohl sie das wurden. Sie wurden reichlich fremdbetreut. Dass meine Idealvorstellung von Familienstrukturen jenseits unser patriarchalen Gesellschaft liegen, habe ich bereits in dem Beitrag „Ende der patriarchalen Strukturen? – Wenn sich Liebe vom Rest trennen ließe“ formuliert, aber was meint das?

Mein Herz schlägt sicher feministisch und keine gesund-denkende Frau kann sich gegen die Wünsche der Feministin, endlich gleichberechtigt zu sein, verschließen, ohne sich selbst zu verraten. Angesichts der Zahlen und Statistiken zu Gender-Gap, zu Femzide, zur Gewalt gegen Frauen, angesichts der Geschichte des Hasses gegen Frauen, politisch und gesellschaftlich gewollt, kann eine Frau auch gegen den Feminismus nicht gleichgültig sein. Und letztlich bedeutet das, dass ich individuell den Kampf ausfechten muss und in meinem Leben für die Sache einstehen muss. Will ich das? Bin ich bereit dazu? Ich habe geheiratet. In meiner Ehe gestritten darum, dass mein Partner Elternzeit nimmt und verloren. Habe versucht für den Partner und für mein Ansehen, Familie und Beruf zu vereinen, habe meine Kinder nicht dafür bluten lassen wollen und alles unter einen Hut zu bringen versucht. In der Ehe gestritten um den Umstand, eine schlechte Ehefrau zu sein, weil ich meinen Haushalt nicht bewältigt habe, neben Beruf und Kinder. Wer sprach da schon von Care-Arbeit? Ich, ich allein hab die Kinder gewollt. Mein Ex-Mann wollte sie auch, aber anders als ich. Arbeit und die Anerkennung einerseits, Familie zuhause andererseits, alles ist schön. Willkommen in der Wirklichkeit der Rama-Familie. Ich bin noch immer der Ansicht, dass ich auch als Frau das Recht haben sollen dürfte, dass ich mich um meine Kinder kümmere. Meine Kinder. Meine Kinder. Und ich bereue meine Entscheidung, dass ich mich um eine gleichzeitige berufliche Unabhängigkeit bemühte. Eins von beidem genügt.

Nein, wenn ich nicht nein sage, so sage ich vielleicht trotzdem nicht ja, zumindest nicht zu allem. Ich wollte meine Kinder selbst begleiten und ich wollte dennoch ein Leben führen, dass es mir ermöglicht, selbst-bestimmt zu sein. Ich dachte, es würde genügen, dies nacheinander zu wollen. Jetzt ist die Zeit für das andere, weil meine Kinder groß sind. Grundsätzlich sollten sich Frauen klar sein – und Männer irgendwie auch, was sie wirklich wollen. Und wenn sie zunächst Kinder bekommen wollen, sich darum kümmern wollen, sollte ihnen das anerkannt und beruflich zugeschlagen werden. In einer Welt, die alles monitär bewertet, sollte auch alles einen monitären Wertmarker bekommen und zwar einen, der angemessen zur Leistung steht. Wir brauchen ein gesellschaftliches Miteinander, in dem real alle die Kinder mittragen: finanziell, räumlich, wirtschaftlich, ökologisch.

Mir wird von Psychologinnen und politischen Gruppierungen erklärt, dass ich Verständnis haben muss, dass auch mein Gegenüber eigene Ziele wählt, in seiner Geschichte lebt und seine Grenzen hat, die ich respektieren soll, die ich akzeptieren soll und – wenn ich ihnen zuwider handele – ich gleichfalls Gewalt ausübe. Ja, verstehe. Verstehe. Ich verstehe das dann so, dass ich im Prinzip die Bedingungen meiner Partnerschaft mit dem Mann, der meine Kinder mit mir zusammen großzog, selbst gewählt habe und nun ertragen muss, weil er diese historischen Fundamente unserer Kultur ebenfalls leben wollte und sogar sich in seiner Rolle bestärkt sah und diese sogar begrüßte. In der Rückschau ist es auch so, dass ich ja viel streitlustiger war als er, auch und vor allem aus seiner Sicht. Alles, was er erinnert, ist das „Wie“, kein Quäntchen „Was“ ist dort auszuquetschen. Ich kann also streiten, versuchen meine Argumente anzubringen, kann tun, was ich will und letztlich stellen Vater und Sohn sich hin, Arm in Arm und erklären, dass sie die Intelligenz sind und dass sie der Erfolg sind. Wenn ich mein Handeln und Streiten reflektiere, dann sehe ich den Wunsch nach Gleichberechtigung, den Wunsch nach Anerkennung, den Wunsch nach Selbstverwirklichung. Ich soll also Verständnis haben und dennoch wie Jeanne D’Arc kämpfen und bemerke kaum, dass es Don Quichotes Windmühlen sind, die ich angreife? ICH will als Frau auch Frau genug sein dürfen, Kinder großziehen zu können und doch will ich soviel Mensch sein, dass ich das nicht allein tun muss, dass ich nicht allein damit bleibe und in Windeln, Schlafmangel und Hoffnungslosigkeit ertrinke. Ich will nicht beschimpft werden, weil ich es wage, meine Stimme zu heben und zu sagen, dass beides möglich sein muss. Und ich will auch nicht akzeptieren müssen, dass ich ausgebeutet werde, weil ich in dem Spiel die weibliche Puppe benutze.

  1. Beruf und Kind und Haushalt, das ist Sklaverei.
  2. Kind und Haushalt, das ist Gefängnis.

… Für die Frauen natürlich nur. Kann es nicht anders sein? Was muss passieren, dass auch Männer diese Rollenverteilung nicht mehr wollen?

Natürlich kann ich den Hintergedanken der „positiven Verstärkung“ sehen, wenn ein Preis wie „Spitzenvater des Jahres“ die Männer anregen soll, doch auch ihre Vaterrolle ernster zunehmen. Nur: geht der Schuss nicht nach hinten los, weil eben die Frauen diesen Job so selbstredend seit Jahrtausenden ausüben? Mir ist klar, dass der Wettbewerbsgedanke den Mann motivieren soll, sich mehr zu bewegen, trotzdem könnte ich kotzen.

Erschwernis ist: Ich kann bestimmte Erfahrungen nicht als Wissen über etwas machen, sondern erlebe sie und dann muss ich auch noch schauen, ob das individuelle oder gesellschaftliche Erfahrungen sind. Wenn mir die Worte fehlen, etwas zu benennen, kann ich mich auch nicht mitteilen, nicht so, dass mein Gegenüber mich versteht. Sprachlosigkeit, Ohnmacht sind Konsequenzen daraus. Nehmen wir noch einmal das Thema Gewalt: Gewalt aus Ohnmacht bzw. Mangel an alternativen Strategien ist etwas anderes als Gewalt aus Macht trotz Alternativen. Bei ersterem benötige ich die Erkenntnis eines Problems, eine Problemanalyse und dann die Option von Alternativen. Das nimmt tatsächlich Zeit in Anspruch, lässt sich aber bewältigen. Wenn jemand Gewalt ausübt, weil er ein Machtmensch ist, dass werden die Optionen nur subtilere Mittel der Machtausübung werden, vielleicht ohne Schrammen und blaue Flecken, doch ähnlich problematisch. Und nun stehe ich irgendwo in meiner Entwicklung in meinem Leben, habe wunderbare Ratgeber gelesen: Ich-Stärkung, Grenzsetzung und ich weiß nicht noch was alles und die Theorie ist ganz erstaunlich hübsch und attraktiv. Ich schwöre mir, dass mir X und Y nicht passiert, dass ich A bis Z tun werde, sollte es doch so sein. Das Leben aber ist letztlich nichts, was nach Handbuch funktioniert und ich kann lediglich im Nachhinein reflektieren, was ich wieso wie getan habe und dass es vielleicht kein Einzelschicksal war. Dann aber ist es auch keine individuelle Boshaftigkeit mehr, sondern steckt im Detail im System. Seit dem Ende der Moderne wissen wir, dass es „Das Böse“ nicht gibt. Wir wissen, dass die Welt sich nicht in „gute“ und ich „schlechte“ Menschen teilen lässt, dass ein Charakter durch viele Facetten hindurchschimmert und sich die Farbenpracht im komplexen Zusammenspiel zeigt. Und wenn ich dann erst im Nachhinein in der Lage bin, X und Y als „X“ und als „Y“ zu benennen, ja auch erst dann als solche verstehen kann, was hätte ich denn dann anders machen können? Ich stehe hier mit meiner Zeitlichkeit behaftet und weiß genau, wem will ich was erzählen? All die guten Ratschläge, wenn Frauen von Gewalt erzählen, die sie erleben oder erlebt haben, sind böse Schläge, denn wir stecken alle – Mann und Frau und alles dazwischen – in dieser Falle des Erlebens verhaftet als naturiertes Kulturwesen oder kultiviertes Naturwesen. Dazwischen. Vielleicht kommt nur der Humor uns bei.

Lasst uns noch einmal vor Augen führen, welche Werke dieses charmante Thema behandeln:

Schöler, Leonie: Beklaute Frauen. Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte, 12. Aufl., München 2024

Endler, Rebekka: Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt, 2021

Clemm, Christina: AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt, 2020

Holland, Jack: Misogynie. Die Geschichte des Frauenhasses, 2001

Roman – Frauenthema und Männerdiskriminierung, Nachrichten über Massenvergewaltigung

In welcher Welt wollen wir leben? In dieser aktuell doch sicher nicht. Auf einer Buchvorstellung wurde mein Roman direkt kritisiert, weil die Männer sterben, übrigens sehr human, gar nicht durch Folter, Vergewaltigung oder Hunger, also absolut unmännlich. Mir liegt böse in den Fingern zu schreiben, dass human vermutlich eine weibliche Eigenschaft ist, während Gewalt, Brutalität männlich sein muss. Genetisch? Vielleicht genetisch.

Ich muss zugeben, dass die aktuellen Nachrichten über den in Frankreich zu ende gegangenen Prozess Pelicot und der über Telegram organisierte Austausch darüber, wie Mann am besten eine Frau betäubt und anschließend vergewaltigt in mir eine Sintflut an Emotionen austreibt und nebenbei auch eine Sinnflut antreibt. Welchem Mann kann man eigentlich trauen? Mir sitzen mein Tanzpartner, den ich Freund nennen würde, und seine Lebensgefährtin gegenüber und ich frage mich, was weiß ich nicht, muss ich vor ihm Angst haben? Auch vor ihm? Muss ich nicht nach all dem vor jedem Mann Angst haben?

Ich erinnere mich erneut an meine Romanvorstellung und daran, dass ich kritisiert wurde, dass ich den Mann an sich angreife, weil ich mir eine Welt vorstelle, in der der Mann nicht mehr solche Macht hat. Eine Traumphantasie von einem Paradies für Frauen! Ich kann verstehen, warum in Essen der Beginenhof nur Frauen aufnehmen. Nein, eine Welt ohne Männer mag ich mir wirklich nicht vorstellen. Also gut, habe ich streng genommen, aber ich würde dort nicht leben wollen. Ich dachte aber auch immer, dass nicht alle Männer so sind, dass sie Frauen Gewalt antun und dass ich bestimmt am Verhalten des Mannes mitbekommen kann, ob er mir Gewalt antun will oder nicht. Doch wenn es genetisch ist, ich nicht mitbekomme, wie mein Gegenüber mich gerade entmenschlicht, um mit und an mir seine Gewaltphantasien auszuleben, wo bin ich dann sicher? Wann bin ich dann sicher?

G. Pelicot hat bestimmt ihre üblichen Differenzen mit dem Ehemann gehabt, sie wird vermutlich mit ihm gestritten haben über die Kindererziehung, über das Geld, über Anschaffungen und über Freiräume. Sie werden gute Tage gehabt haben, vergnügliche und sie werden ein ganz normales Eheleben geführt haben. Wie also geht das? Wie fängt das an? Hat er sich über sie geärgert, weil sie ihm seine Lieblingswurst nicht eingekauft hat und weil sie die nie kauft, hat er sich mit der ersten Betäubung an ihr gerächt und sie mal dafür „bluten“ lassen? Dann hat er sich gedacht, dass das gar nicht so schlimm war und hat es noch einmal gemacht? Und dann hat er daraus ein Experiment gemacht und fand es sexuell immer erregender? Wie oder wo beginnt so ein Trip? Und was bedeutet das dann letztlich, wenn man mit 72 Jahren auf ein Eheleben zurückblicken muss, dass durchfärbt ist von einer gewaltigen Lüge und von massiver Gewalt und von so einem Missbrauch an Vertrauen und dergleichen. Das ist der Mann, den man bekocht hat, mit dem Mann hat man Kinder, mit dem das eigene Leben geteilt, an dessen Schulter geweint, den Mann in Krankheit gepflegt.

Wie sollen wir Frauen überhaupt noch Vertrauen für irgendeinen Mann haben? Für die meisten Männer, mit denen ich zusammen war oder mit dem ich aktuell zusammen bin, würde ich meine Hand ins Feuer gelegt haben, dass ich da sicher bin – wie „in Adams Schoß“. Aber heute? In Adams Schoss ist eine Frau nicht sicher.

Es ist der Puls der Zeit. Meine Romanidee ist älter, doch nun ist die Zeit offensichtlich reif für dieses Thema. Und die Reaktion im Buchladen zeigt, es ist aller höchste Eisenbahn, dass wir Frauen uns ermächtigen, nicht mehr wie ein Kaninchen vor der Schlange zu erstarren, nicht mehr zu dulden, wenn Männer über Grenzen treten, nicht mehr zu schweigen. Meine Tochter erzählte heute von einer Übergriffigkeit während der Arbeitszeit durch einen Kunden und erklärte, wie sie ihn bestimmt und klar und gar nicht lächelnd und freundlich in die Schranken gewiesen hat und ich wünschte mir, mir würde dies auch so gut gelingen. Wir hören uns blöde Witzen an, dumme Sprüche, ertragen Hände auf Oberschenkeln, im Nacken oder um die Hüfte gelegt und schweigen. Das muss aufhören. Ebenso wie das Ammenmärchen, dass die wahre Gefahr für die Frauen im dunklen Wald in der Nacht läge und nicht direkt im Bett nebenan. Wir müssen aufhören, unseren Töchtern vom gefährlichen fremden Mann nachts um zwei zu erzählen. Wir müssen damit beginnen, dass wir ihnen Handlungsweisen beibringen, wenn Papa, Bruder, Freund und Onkel zudringlich werden. Wir müssen diese Dinge beim Namen nennen und nicht nur in Frauenrunden. Lassen wir den Männern das Manspreading oder das Mansplaining. Kleinigkeiten. Aber wirklich wichtig ist, dass wir Frauen uns ermächtigen, Empowerment ist das Stichwort. Dafür brauchen wir kein Organ wie in „the Power“ von Naomi Alderman.

Ist es eine unerfüllbare also utopische Wunschvorstellung, dass Männer und Frauen in einer Welt gemeinsam leben könnten, ohne gegenseitig sich unterdrücken zu müssen, sobald es zum Machtausgleich käme? Gibt es keine Möglichkeit der Gleichberechtigung im Miteinander? Muss A immer B dominieren, unterwerfen und unterdrücken? Können wir über unsere genetische Anlage nicht hinaus? Warum sind wir keine Bonobos …?

Und ich frage mich, wie werde ich diese hoffnungslosen Bilder wieder los: Männer, die ihren Schwanz in irgendein Loch in der Mauer, der Wand oder ein Astloch stecken, um sich zu befriedigen. Männer, die irgendeine Frau bewusstlos ficken. Männer, die einer Frau ihren Schwanz in den Mund stecken, obwohl sie vielleicht daran erstickt, die in Truthennen ihre Schwanz treiben, ob diese tot oder lebendig sind, die Orang-Utan-Weibchen zu Frauen verkleiden und ficken, die sogar ihren Schwanz in einen Staubsauger einführen. No capisco. Und würde ich all das tun, wenn ich auf der anderen Seite der Macht stünde? Gibt es irgendwas Vergleichbares in mir, irgendeine Phantasie, die mich verstehen lässt? Ehrlich, ich suche und suche und suche. Ich will kein Kind ficken, weil es so schön kindlich ist. Ich will mich nicht an einem Baum reiben oder an einem Bein oder mir nicht in einer vollen U-Bahn zwischen die Beine greifen und mich selbst befriedigen oder irgendeinem fremden Mann die Hose runterziehen, ihm zwischen die Beine greifen. Wieso habe ich nicht eine kleine miniperverse Phantasie, die mich verstehen lassen könnte, dass all das „menschlich“ ist. Wieso fühlt es sich so an, als sei ich von einem anderen Stern?

Allmählich verstehe ich, dass ich diese Romanserie schreiben will, weil ich begreifen möchte, was es heißt, solchen Zwängen unterworfen zu sein. Nur, wie werde ich diese Bilder wieder los?

Ausverkauf: Heile Welt – Ein Rock-Pop-Schulmusical für und mit Schule

„Wir ernten … ernten, was wir … was wir sähen … sähen. […] Die Leute geh’n voll ab, die flippen voll aus …“

Hier ist schon fast voll – reserviert eben

Wir hatten gestern unseren „Fanta4“-Moment, das Publikum war begeistert und alles lief wie am Schnürchen. Bis zum Schluss. Dann kam noch die Applausabfolge und mitten drin wurden wir unterbrochen. Warum hat mir keiner was gesagt, ich hätte so schön auch die Worte der Schulleiterin vorbereiten können.. Also unser Stück war super. Zweimal super, zwei Mal mit zufriedenen, fröhlichen Gesichtern im Publikum. Dass unsere Schulleiterin nicht Benedikts und meine Arbeit zu würdigen wusste, hatten wir zwar anders verdient. Doch … niemand kann ja ahnen … ahnen, keiner … keiner kann es … kann es wissen … wissen. Bitte, möge jemand verhindern – zu ihrem Schutz -, dass sie am Tag meines Dienstausscheidens (der nicht mehr so weit weg sein darf) – segensreiche Worte zum Abschied sprechen möchte. Ich denke, dann kann ich nicht mehr an mich halten, dann verliert sich all meine Höflichkeit, meine gute Erziehung und (er)bricht sich in meiner Zügellosigkeit in Bahnen – im Strahl. Stellt sich mir an dieser Stelle die Frage: Lernen wir nicht am meisten und auch am liebsten aus negativen Beispielen? Das war auf jeden Fall wieder ein Unikat für die Kiste: So bitte nicht! Ihre Worte zuerst an die Spielerinnen und Spieler zu richten, war super, dann aber nicht einmal zu erwähnen, wer für das Stück verantwortlich ist, wer die technische, musikalische, organisatorische Leitung hatte, wer Regie geführt hatte, das ist mehr als armselig. Über den Rest breite sich Schweigen.

„Doch wir wollen unsere Sorgen vergessen, tonnenweise Torte fressen. Bald ist alles egal, wir können uns eh nicht retten.“

Der Inhalt, bitte sehr!

Tom und Dunia, zwei Liebende in den Wirren der Schulzeit in den 80ern, suchen nach ihrer Identität. Dunia will die Welt verbessern, was ihre Eltern wohl nicht schafften. Ihr Freund scheint dem Thema Klimawandel auch gleichgültig gegenüberzustehen. Tom merkt, dass er Dunia verlieren könnte und will sie beeindrucken. Er sprüht ein Graffiti an die Schulwand. Dabei geht er ein hohes Risiko ein und wird erwischt. In Untersuchungshaft der eine, in der Ungewissheit, wie es nun mit der Liebe und dem ganzen Rest weitergehen soll, die andere leiden beide. Doch wie soll ein solches Märchen gut ausgehen? Oder gehen nicht nur Märchen am Ende gut aus?

Spoiler: Türlich geht es gut aus. Wir starten mit einem Weltuntergangssong, in der Mitte beehrt uns Peter Fox mit seinen Tipps für den letzten Tag und dann versöhnen wir uns mit dem Gedanken, dass die Welt heute noch nicht untergehen wird. Ja, Verantwortung ist gut und wichtig, die habe ich meinem Leben gegenüber auch. Das Leben ist ein Geschenk und ein Geschenk ist immer auch eine Aufgabe, enthält sie und führt dazu, in doppelter Hinsicht. Was für eine Sprache!

Zur Geschichte dieser Produktion:

Im Rahmen des 40-jährigen Jubiläums wollten wir etwas Besonderes an unserer Schule schaffen. Etwas, das uns eint, etwas, das mit unserer Schule zu tun hat, in dem Fall mit unserem Papiermotto. Was wäre besser geeignet als ein Schulmusical über die Leiden und Wirren der Schulzeit selbst?

Bühne mit unvollständigen Bühnenelementen. Nebenbühne rechts für Schauspielerys; Podest links für die Lehrercombo

Unser Schulmusical ist eine Zusammenarbeit aus unterschiedlichen Fachbereichen mit der Unterstützung vieler Lehrkräfte, wie sie in der Form lange nicht an dieser Schule stattgefunden hatte. Ein großartiges Bühnenbild von der Kollegin Hoffmann-Pudelko, ein kleines harmloses Graffiti von Kollege Hanning, Kollege Zillich am Licht, die Lehrerband als chorische und musikalische Unterstützung. Letztlich zogen alle mit, selbst die Orga öffnete Arbeitsräume, wo vorher gar nicht dran zu denken war. Danke dafür.

Im Laufe der Produktionszeit von  1,5 Jahren mussten einige Hürden überwunden werden. Es zeigten sich neben organisatorische Fallstricke auch grundlegende Schwierigkeiten mit einem beständigen Ensemble. Gestartet sind wir mit 40 Schülerinnen und Schülern aller Jahrgänge, die mitmachen wollten. Viele aber stiegen nach kurzer Zeit aus, weil sie Schulnotenabfall oder das Verpassen von Anschlüssen befürchteten. Einsteigende und aussteigende Mitspielerinnen und Mitspieler sorgten für Rollenverschiebungen, sorgten für inhaltliche Veränderungen und Anpassungen, bis endlich dieses Ensemble von 15 Schülerinnen und Schülern die gekürzte und angepasste Version spielen konnten. Daraus gewachsen sind Freundschaften fürs Leben. Zuvor hatten wir ein Stück beabsichtigt, dass doppelt so lang gewesen wäre, dass deutlich mehr Choreografien aufgewiesen hätte. Auch musikalisch haben wir das Stück zusammengestaucht, häufig nur den Refrain gesungen.

Mein Ensemble und der Auftritt

Die Jugendlichen waren großartig, sie haben jede Menge Applaus verdient und zwar nicht nur für das Ergebnis, sondern vor allem für ihren Weg, den sie zurückgelegt haben. Sie sind mutig an ihre Grenzen gegangen, sind liebevoll miteinander umgegangen, haben sich in den Text mühsam und kämpferisch hineingekniet, Ängste und Paniken ausgehalten, haben alles gegeben und sind so gewachsen. Jeder und jede einzelne hatte in diesem Stück seinen oder ihren ganz eigenen Moment des Wachstums und des Erfolgs. Unsere Tanzmaus kann laut und kann auf den Punkt, sie kann sich zeigen und war so sichtbar. Unser Bär mit seiner Begabung, die Gruppe zusammenzuhalten und für den einzelnen da zu sein, hat niemanden aus den Augen gelassen und alle geschützt. Unser Klaviervirtuose steckte mindestens zwei weitere an, Klavierspielen lernen zu wollen. Wir hätten eine Kamera auf das Klavier stecken sollen, damit man sieht, dass er selbst spielt. Die Eifrige von allen, die immer alles für alle am Start hatte, immer auf den Punkt, immer dabei. So eine tolle Ausstrahlung hat unsere Schüchterne. Niemand sieht es ihr an und sie hat sich getraut, sie konnte sich zeigen. Die Entwicklung von zwei oder drei weiteren Mädchen, die so anders im Unterricht waren und dann mit ihrem Spiel auf der Bühne glänzten. Dieser Eifer und diese Hingabe. Unsere Hauptdarsteller, die einen eigenen Weg fanden, Nähe zu spielen, so dass das Publikum einen Kuss erwartete. Nun, hinter der Bühne plötzlich zeigt sich, dass sie sich was zu geben haben. Nein, sie sind keineswegs verliebt ineinander, aber sie können es heute spielen. Die vielen kleinen Momente vor dem Spiegel, hinter der Bühne. Es ist ein Geschenk.

Bei mir stellt sich das Gefühl von Stolz und Liebe ein. Das und genau das will ich. Ich möchte Jugendliche dazu bringen, dass sie über sich hinauswachsen und für sich kleine Erfolge haben, die ihnen niemand wegnehmen kann. Denke ich an meine Schulzeit zurück, dann erscheint mir dieser Moment, als ich auf die Bühne gehen musste und das Theaterstück in vor meinem geistigen Auge.

Das Ende und die Reflexion

Gewürdigt wurden wir. Die Jugendlichen waren begeistert und haben sich bedankt für diese Arbeit. Was sollte ich mehr wollen? Kolleginnen und Kollegen waren entzündet und stolz auf die Kids. Ich muss sagen, dafür tue ich das. Auch wenn ich zugegeben gerne höre, dass ich etwas gut oder toll oder schön oder besonders gemacht habe, weiß ich schließlich, dass da nur meine Eitelkeit gestreichelt werden will. Noch mehr will ich meine Begeisterung für die Jugendlichen teilen, für das, was ich mit ihnen erlebt habe.

Am Ende gibt es einige organisatorischen Dinge, die ich im nächsten Durchlauf anders händeln würde. Auch der Ablauf und die Probenzeiten müssten anders für die Spielenden eingebettet sein. Unverändert möchte ich meine Spielgruppe lassen. Ich möchte diese 15 jungen Menschen nehmen und das nächste Stück mit ihnen planen und dann vielleicht noch eines, diesmal mit noch mehr Tanz und mit mehr Hauptrollen und noch mehr Gesang und mehr Instrumenten … Ich hätte Lust …

… da klopft schon das nächste Projekt: „Der zerbrochene Krug“ …

… Immer ist ja irgendwas.

Aber wer weiß, vielleicht 2026 wieder?