Lehrkräfte in Anwärterschaft – Ausbildung oder Ablenkung?

Was würden Sie erwarten, wenn Sie für den Lehrerberuf ausgebildet werden würden?

Wie standardgemäß bewertet und korrigiert wird? Welche Aufgaben zu Ihrem Arbeitsfeld gehören? Würden Sie erwarten, dass man Ihnen erklärt und es Ihnen unter Umständen beibringt, wie man mit großen Gruppen und kleinen Gruppen, wie man mit heterogenen Gruppen umgeht? Vielleicht auch, was Sie beachten müssen, wenn Sie im Besonderen mit Jugendlichen und damit mit Pubertierenden umgehen? Vielleicht geht Ihr Gedankengang soweit, sogar zu denken, dass eine Rechtsgrundlage im Umgang mit Schülern und Schülerinnen, mit Erziehungsberechtigte zu den notwendigen Werkzeugen gehört, die Sie kennen sollten? Oder denken Sie, dass eine Lehrkraft wissen sollte, wie man im Falle eines Schülers mit plötzlichen Zuckerschock (Diabetes) umgehen müsste? Grundkenntnisse in psychologischer Hinsicht wie zum Beispiel Panikattacken und ihre Verläufe, Auswirkungen von Schlafstörungen, Erkennen von jugendgefährdenden Symptomen zum Beispiel häusliche oder schulische Misshandlungen? Sollte man als Lehrkraft wissen, wie man bei Mobbing gezielt vorgehen kann? Wie man gegebenenfalls Opfer schützt? All diese Dinge sind mir in meinen Berufsjahren begegnet, zu nichts von dem wurde ich geschult.

Das alles hat mit einer Ausbildung zu einer Lehrkraft in Deutschland nichts zu tun. Als Referendar oder Lehrkraft in Anwärterschaft haben Sie schließlich ein sehr interessantes breitaufgestelltes Fachstudium mit einem Ergänzungsstudiengang (Klein „e“ genannt) erfolgreich abgeschlossen. Alles, wirklich alles, was Sie dort gelernt haben, können Sie getrost ablegen, denn jeder Wissensinhalt ist für die Köpfe Ihres Klientels zu mächtig und jedes wissenschaftliche Arbeiten unbrauchbar für Schulzwecke. Sie haben einen großen Überblick, erkennen Zusammenhänge und vielleicht Notwendigkeiten, davon lässt sich jedoch vielleicht eine Messerspitze vermitteln, an Gymnasien eventuell auch ein Fingerhut. Ihr Kopf ist vielleicht randvoll mit allen möglichen Theorien zur guten Erziehung, zu Schulsystemen, doch Sie werden noch erfahren, dass Theorien eben sind, was sie sind: Theorien. Theorien verhalten sich zur Realität wie Mythen zur Wahrheit; irgendwas ist dran, aber was genau, bleibt nebulös und erfahrungsabhängig. Sie haben Hintergrundwissen, wie Lernen funktioniert? Schön und unbrauchbar, weil das System Schule, in dem Sie förderhin Mitglied sind, diese Strategien nicht nur unbrauchbar macht, sondern ihnen entgegenwirken. Die Schule als System tötet nach und nach jede Lernlust ab.

Die Ausbildung zu einem Lehrer beginnt nackt und oft mit Frostbeulen. Sie bekommen gesagt, dass Sie sich bei Fragen an Ihre Seminarleiter wenden können, doch da diese „brutal“ das Spiel „der Richter und sein Henker“ spielen, sind Sie gut beraten, besser nicht zu zeigen, dass Sie kein/e geborene/r Montessouri sind. Wagt man Fragen wie „Was mache ich denn, wenn …?“, bekommt man eine diffuse Antwort, die auf alles passt: „Sie werden merken, dass jeder Lehrer und jede Lehrerin eine eigene Strategie entwickelt und Sie im Laufe der Zeit, Techniken erwerben, mit denen Sie damit umgehen können!“

Beispielfall Egon

Ja, wenn der kleine Egon eben bockt oder zickt, dann rufen Sie die Eltern an, weinen sich bei denen aus und verlangen, dass sie ihren Egon mal wieder in die Spur setzen. Egon, das ist ein Name auf einer Notenliste und auf jeden Fall ein Problem anderer Leute. Die Klassenlehrkräfte zum Beispiel, die wissen alles über Egon. Wieso er einnässt, dass er nur noch bei Papa wohnt und dass ein Psychologe eingeschaltet ist. Ein ganz schlimmer Fall, Egon kann man verstehen. Tja, aber in Ihrem Unterricht muss er dennoch das Spiel „braver Schüler“ mitspielen. Schließlich können Sie sich wirklich nicht um die privaten Probleme von Egon kümmern (denn da sind schon all die anderen schulischen sozialen Themen), haben einen Stoff durchzubringen und neben Egon noch wenigstens 25 andere Kinder, die alle ein Recht haben, dass man sich um sie kümmert. Natürlich geht das nicht, denn dann werden Sie einfach nicht fertig und mehr als ein paar Einheiten 45 Minuten haben Sie nicht, da müssen Sie knausern mit der Zeit.

Egon ist ein Individuum in der Entwicklung und der hat Schwierigkeiten sich in seinem Umfeld zu orientieren, er hat Schwierigkeiten mit sich selbst, weil seine Welt zusammengebrochen ist und weil er sich selbst auch gerade nicht versteht. Er soll aber verstehen, dass hat man ihm gesagt. Daneben ist Egon ein ganz normaler Junge, der ebenfalls dafür sorgt, dass andere Kinder Respekt vor ihm haben, seine Gefühlslage nicht durchschauen und er Tom und Mohammed zeigen will, dass er sich nicht unterkriegen lässt; dann sind da die Mädchen, die er nicht versteht und dann kann er auch Lehrer X und Lehrerin Y nicht leiden. Egon kommt schlecht aus dem Bett, träumt gerne lange und will sich morgens nicht hetzen lassen. Hunger hat er morgens nicht und all diese Unruhe führen oft zu Übelkeit. Merkt Egon kaum, weil er sich schon daran gewöhnt hat.

Egon muss in der Klasse seine Position herausfinden. Als Junge bedeutet das auch, sein Verhältnis zu den anderen Jungen zu ermitteln, stark sein und dafür Sorgen, dass über die anderen gelacht wird.

Für Sie ist Egon jemand, der hinten in der Klasse neben Tom und Mohammed sitzt, der wie ein Echo für Unruhe sorgt, sobald Tom als erster einen blöden Witz macht. Egon ist der, dem Sie drei Mal sagen müssen, er solle endlich sein Heft aufschlagen und die Tafel abschreiben. Er verweigert, er ist langsam und er holt sich bei Mohammed und Tom die Bestätigung dafür. Für Sie ist Egon ein Problemfall, weil er zusätzliche Aufmerksamkeit braucht und sein Vater nicht erreichbar ist.

Wenn Sie Egon ansehen, losgelöst von Ihrem Job, für die nächste Klassenarbeit den Stoff durchzubringen, losgelöst von den Aufgaben, alle Fehlenden und Störenden ins Klassenbuch einzutragen und noch die Hausaufgaben zu kontrollieren, losgelöst von all Ihren Zielen, so könnten Sie doch nichts für Egon tun, außer zu sagen, dass dieses Schulsystem ihm nicht gerecht wird. Natürlich kann man auch den Lehrkräften generalisiert die Schuld an etwas geben, was systemisch bedingt ist, wie es zum Beispiel Sigrid Wagner tut, wenn sie den Unterricht diagnostisch beurteilt und über die Kolleginnen und Kollegen ihr Urteil fällt, wenngleich meist der Unterricht hinter verschlossenen Türen verläuft. Letztlich ließe sich Egons Problem und natürlich auch das von Sigrid Wagner nur lösen, wenn wir anfingen, Schulen als Bildungszentren neu zu denken.

Die Schulenge der Zeit – das ORGA-MONSTER

Was Sie als Referendar bislang noch am Rande tangiert, ist die Enge im Kalender. Als Frischling wollen Sie die nächste Stunde bestehen, müssen Ihre Stunden vorbereiten, die Sie als perfekter Vorführung zeigen. Und das lernen Sie auch sehr schnell: Es gilt wie früher in der Schule jenen zu gefallen, die Sie Stunde um Stunde bewerten werden: dem Kurslehrer, dem Fachleiter, der Hauptseminarleitung, der Schulleitung … einmal alle durch. Hier brauchen Sie Gutachten, dort brauchen Sie eine Note, da ein gutes Feedback. Und wie Sie selbst später als Lehrkraft ausweichen, wenn ein Kind vor Ihnen steht und eine Note haben will, weil ja eine Note gar nicht alles und weil eine Note überhaupt keine wirkliche Aussage trifft, so geschieht es Ihnen, wenn Sie den Fachleiter fragen. Sie bekommen eine Tendenz genannt, vielleicht, eine mit Luft zur Entwicklung. Und später wissen Sie auch, wie Ihre Note zustande gekommen ist: Nadine, die andere Referendarin an Ihrer Schule oder in Ihrem Seminar, hat schon in Jugendcamps gearbeitet und ist pädagogisch vorgeschult, jede Stunde sitzt und wird besser als Ihre bewertet und Sie werden natürlich an ihr gemessen. Vom Haloeffekt will ich gar nicht erst reden (googeln Sie mal, ist spannend), auch nicht von dem unbewussten Sexismus, der natürlich vorkommt wie Mineralwasser im Gebirge. Menschen mit Macht haben Macht und benutzen sie zumeist auch, so wie Sie später als Lehrkraft. Also die Luft zur Entwicklung Ihrer Note ist oft sehr luftig.

Aber zurück zum Kalender: Der Jahresplan ist nicht nur für Ihre Prüfungen wichtig, nein, dieser Jahresplan jagt die Lehrkräfte über die Korridore, hetzt sie über den Schulhof und lässt sie zusammengekauert in irgendwelchen Lehrerzimmernischen hinter Rotstiftbarrikaden zurück. Alle Kreativität, alle Selbständigkeit des Lernens (was Zeit braucht, wie Sie theoretisch wissen), alle Lust an der Arbeit ist dem Edikt des Jahresplans unterworfen: Quartalsnoten, Notenkonferenzen, Klassenarbeiten, Parallelarbeiten, mündliche Prüfungen, Elterngespräche, Zeugnisnoten, Halbjahresabschluss, Schulabschluss, Vorbereitung des Elternabends, Konferenzen, Abiturprüfungen, Verschriftlichung des Schulcurriculums, Lehrplanänderung, Schulbuchinspektion, Fortbildungstage und zwischendurch Fehlstunden zählen, Klausuren erstellen mit Erwartungshorizont sowie mindestens zwei Ersatzarbeiten für Nachschreiblinge, Elternbriefe aufsetzen und den Tag der offenen Tür planen. Mal wieder einen Ausflug planen? Ja, das ist eine Idee, aber wohin nur damit, wohin? Wann kann sowas möglich sein? Alles wird zu einem organisatorischen Monster, dem man besser aus dem Weg geht. Wird eine Klassenarbeit geschrieben, ist es vielleicht die letzte Stunde vor einer geplanten Arbeit? Wie viele Kolleginnen und Kollegen müssen dafür abgestellt werden? Welche Stunden fallen aus? Wie können die vertreten werden? Ist Vertretungsmaterial an die entsprechende Lehrkraft gereicht? Der Referendar oder die Referendarin erfahren davon wenig bis kaum etwas, aber dieses Monster, das Orgamonster, ist gefräßig und es ernährt sich vom Stress, den es selbst auslöst.

Natürlich müssen Sie Rücksicht auf das Abitur oder einen Jahrgangsausflug nehmen, doch im Prinzip sind Sie im Schonraum. Wie in einer Blase tanzen Sie einen ganz wundersam anzuschauenden anderen Tanz nebenan, der mit Seminararbeit, Referate, Stundenausarbeitung und Stoffreduzierung zu tun hat. Gleichzeitig haben Sie natürlich auch schon „richtigen“, weil eigenständigen Unterricht, doch irgendwie ist das anders.

Wäre es nicht schön, Sie würden die Zusammenhänge erklärt bekommen und einen Einblick während Ihre Ausbildung erhalten, woher dieser Wahnsinn kommt und wie zum Beispiel Stundenpläne und Stundenraster entstehen? Und dann noch Spielräume? Schon das Wort ist eine Melodie in Dur, Hoffnung.

Erfahrungen aus meiner Referendarszeit – vielleicht überholt?

Wie sieht Ihre Ausbildung zur Fachlehrkraft aus? An einem theoretischen Seminartag, erhalten Sie durch sich und Ihre Mitreferendare Input, wie eine Reihe bis zur Klassenarbeit geplant und aufgebaut wird. Sie erfahren, woher Sie passendes Stundenmaterial bekommen, wie Sie das vorhandene Unterrichtsbegleitwerk plus den Lehrerband dazu sinnvoll nutzen können und Sie fragen sich, wie Sie wohl den Stoff in die Schüler und Schülerinnen reinbekommen können, so dass es der Seminarleitung gefällt. Und natürlich mit Rezepten guter Unterrichtsführung. Die wichtigste Frage für Sie und all Ihre Lehrerkollegen lautet: Gibt es dazu ein Buch? Ein Deutschbuch, ein Spanischbuch, ein Übungsbuch, ein Lehrerbuch? Das Buch ist der Tod des lebendigen Unterrichts. Als in der Fachkonferenz für Darstellen und Gestalten die Anschaffung eines Lehrwerks diskutiert wurde, habe ich innerlich geweint. Als nächstes folgten Klassenarbeiten und theoretisches Lernen von praktischem Wissen.

Simulationsunterricht? Nein, den haben Sie doch schon all die Jahre ausführlich genossen, daran muss man nichts verbessern. Simulationsgespräche führen? So tun, als hätte man wirkliche Probleme im Schulalltag zu lösen und nicht bloß die Frage zu stellen, welche Novelle eignet sich für Jahrgang acht als Gemeinschaftslektüre? Müssen wir die anschaffen oder kauft sich jedes Schüly selbst sein/ihr Buch

Ideen einer anderen Lehrerausbildung

Stellen wir uns vor, ich müsste 15 neue Kollegys auf ihren Unterricht vorbereiten und sie ausbilden: Fangen wir damit an, was ich meinen Referendaren sagen würde: Ich kann dir inhaltlich nichts beibringen, weil ich mein inhaltliches Material fast ausschließlich kurzfristig nach Bedarf auswähle, was grob zum Thema passt. Ich weiß sowieso viel mehr als meine Schützlinge und wenn die Lerngruppe stärker ist, bereite ich mehr Material vor. Was ich dir beibringen kann: Wie bestehe ich vor der Gruppe? Was sind gruppendynamische Prozesse? Woran erkenne ich, welche Rolle wer in der Gruppe spielt? Wie kann ich die Teamfähigkeit (Teambuilding: 27 Übungen für besseren Teamgeist (lecturio.de) Nicht alle diese Übungen sind hilfreich, es muss eine Auswahl nach Belastbarkeit der Gruppe getroffen werden) trotz Konkurrenzdruck fördern? Was braucht die Gruppe, um sich zusammengehörig zu fühlen? Was braucht die Gruppe, damit sie mich als Leader akzeptiert? Alles Inhalte, die ich im Rahmen meiner Theaterpädagogischen Ausbildung gelernt habe, denn im Theater kann ich einem Regisseur schlecht sagen, dass er mal ausprobieren soll, wie er mit der Gruppe klar kommt. Das war übrigens mein erster AHA-Moment in der Ausbildung als Theaterpädagoge.

Ich beruhige meine Referendare, weil die Schüler und Schülerinnen bei einer verkackten Stunde nicht in ein Dummheitskoma versinken, es richtet wirklich kein Schaden an, inhaltlich wird der meiste Lernstoff vergessen, dient nur als Material, formale und soziale Aspekte zu erlernen. Ich erkläre meinen Referendaren, dass ich sie zunächst beobachte und ihnen dann zu ihrer Körpersprache, zu ihrer Aussprache und zu ihrer Wortwahl ein Feedback gebe, nicht im Sinne von Wertung, sondern im Sinne einer Achtsamkeitsübung. Kinder und Jugendliche sind wie junge Hunde oder Pferde, sie sind sehr sensibel für Schwächen.

Dann stellt sich endlich die Frage, was Jugendliche eigentlich in der Schule sollen. Sind sie da, um Wissen aus dem Angebot zu schöpfen? Sind sie da, um bestimmte Softskills zu lernen? Sollen sie überhaupt etwas lernen?

Ich behaupte, vielleicht! Die Inhalte sind Stellvertreter für die Softskills, die sie mitnehmen können, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, doch ist eher die Absicht, dass die Schüler und Schülerinnen im geschützten Rahmen aufbewahrt werden und das möglichst preiswert. Wenn außerdem etwas dabei rauskommt, gut. Wenn nicht, nicht schlimm, muss dann die Wirtschaft auffangen. Dahinter steckt keine Verschwörung von dunklen Mächten, sondern eher das Ziel, möglichst wenig zu investieren und es so lange so laufen zu lassen, wie es geht. (Lesen Sie hierzu über das unsichtbare Handphänomen von Rudi Kellers „Sprachwandel“ und den Roman von Peter Hoeg „der Plan von der Abschaffung des Dunkels“. ) Wird an dem Konzept gerührt, dann kostet es viel Geld. Solange alle glauben (Lehrkräfte, Eltern, Kinder und Jugendliche) es seien alles individuelle Probleme, individuelle Systemschwierigkeiten, Standortphänomene, fehlende Ressourcen (was dem Hauptproblem grundsätzlich nahe kommt) oder ein Werteproblem (meine Lieblingslüge), so lange wird diese kaputte, nicht-zielführende Maschine Schule weiterbetrieben.  Wir wissen aus unserem Klein-e-Studium, dass Kinder und Jugendliche mit ihren STÖRUNGEN immer auf die Probleme aufmerksam machen. Wir wissen aus der Psychologie, dass Störungen Hinweise sind, denen man nachgehen muss, wenn man das zugrundeliegende Problem beheben will. Und es wird schlimmer, wenn man es ignoriert. Wir wissen auch, dass sich die Schule nicht wirklich verändert hat, seit wir in der Schule waren, seit unsere Eltern in der Schule waren und seit deren Eltern in der Schule waren. Medien haben sich geändert, die Stundentafel nicht, sie ist lediglich länger geworden, nur besser ist es nicht.

Wie geht es dann weiter? Ich würde meine Referendare zunächst einmal in Körpersprache schulen, sie zu Leitfiguren für die Schülys heranbilden. Anschließend stellt sich die Frage, was für Lehrkräfte sie sein wollen und wie die Zukunft unserer Schulen aussehen kann.

Also, lieber Referendar, liebe Referendarin: Was für Lehrkräfte wollen Sie werden?

Drum bedenke: Dein Weg ist weit und dein Erbe schwer.

Mein Musical – es geht los. Step one ist bekanntlich der schwerste

Wie ein langer Hürdenlauf erscheint mir der Weg bis zur Aufführung meines Musicals zu sein. (Mein Cursor ist weg, das irritiert.) Erst brauchten wir, mein Kollege für die musikalische Leitung und ich grünes Licht von oben. Endlich konnten wir genug Überzeugungsarbeit und Übernahme aller Verantwortung und Arbeit leisten, dass wir überhaupt nach einem Ensemble Ausschau halten durften. Dann mussten wir nach Schülerscharen suchen, die überhaupt willig sind, mitzumachen. Von 1300 Schülerinnen und Schülern haben wir jetzt 40 abgeschöpft, die jedoch von den Lehrkräften direkt als erstes mitgeteilt bekommen, dass sie auch ja immer gucken, dass sie alles nacharbeiten. Also haben einige meiner 40 Findlinge bereits wieder tapfer die Schulkarte gezogen und sind ausgestiegen …

Und dennoch, es sind so viele Schülys, dass wir die Rollen doppelt besetzen können, dass wir eine eigene Performancegruppe habe und dass wir einen Chor aus der Schülerschar stellen können. Alle Rollen doppelt vergeben, zwei mal zwei Inszenierungen und trotzdem die Sicherheit, dass nichts schief gehen kann. Wie cool.

Und dann ist da die Organisation: Klausurpläne im Blick behalten, säuerlichen Kollegen noch zwei mal mündlich erklären, wozu es schon Info-Mails gab, aus allen Listen die Kollegen zusammensuchen, bei denen die Schauspieler und die Sänger Unterricht haben, die Regeln kommunizieren, mehrfach auf verschiedenen Kanälen, Listen herumschicken, abgleichen, Probenpläne erstellen, alle Bedürfnisse der Künstler berücksichtigen, da dazwischen? Dazwischen wieder eine Mail von irgendwelchen Kolleginnen und Kollegen, die ja das Projekt an sich ganz toll finden, aber muss es denn wirklich so sein, dass man dafür probt – also generell? Dann fällt wirklich ständig Unterricht aus. Ich erkläre also das zehnte Mal, dass es einen Probenplan geben wird, dass die Schülys nur dann fehlen und dass jetzt etwas geballt ist, weil wir erst festlegen müssen, wer welche Rolle spielen kann und ein bisschen entnervt erkläre ich, dass bislang alle Schülys maximal zwei Mal bei uns waren, wir sie in kleineren Gruppen eingeladen haben und viele überhaupt nur einmal bei uns waren. Ist aber schon viel, was die jetzt fehlen werden. Ich bitte um eine Versuchszeit bis zu den Weihnachtsferien, danach könne man nochmals ins Gespräch gehen und schauen, wie viel der Schüler oder die Schülerin (unsere meisten Ensemblemitglieder sind natürlich weiblich) tatsächlich fehlt.

Jetzt kann es los gehen.

Mail: Hauptfigur Tom 1 verlässt die Schule.

Äh, woher nehme ich den Ersatz? Mist.

Wenn ich mich allerdings in die Beobachterposition begebe, fällt mir auf, wie reizvoll dennoch das Planen und Organisieren ist. Noch ist alles möglich. Jungfäulich offen und unversehrt. Die Rollen sind verteilt, der Text steht und in meiner Phantasie gibt es eine wundervolle Inszenierung mit Videoeinspielern, mit einem anpassungsfähigen Bühnenbild, bunten Showelementen, mit einer musical-würdigen Abschlussszene, mit einem passenden Rahmen, einer super Anmoderation und einer punktgenauen Technik, mit Händeschütteln, Verträge für ein großes Opernhaus, mit den Ärzten als Gäste, die dieses Musical kaufen wollen, mit dem Bundesverdienstorden und einer Schulleiterin, die mich anfleht, nicht zu kündigen, damit alle zwei Jahre an ihrer Schule ein so großartiges Musical stattfinden kann. Ich bekomme das Angebot, dass ich nur noch Theater mache, junge Referendare mit Theaterpädagogischen Elementen auf das Leben im Unterricht vorbereite, dass ich an diversen Schulen dafür gerufen werde, Theaterprojekte bis zum Erfolg zu führen und dafür muss ich keine Noten geben, nicht mehr an Notenkonferenzen teilnehmen, nicht mehr an Schulkonferenzen teilnehmen und überhaupt …

… dann kann ich aus einer Toilette trinken ohne Ausschlag zu bekommen.

Drehbuchwerkstatt München, die Zweite – Action.

Ich habe mir also noch einmal die Bewerbung für die Drehbuchwerkstatt München vom letzten Jahr vorgelegt und gesehen, dass ich meine Komödie von der Königin und ihrem Piraten sowie meine Ökoterroristin ins Rennen geschickt hatte. Bis Ende Dezember habe ich Zeit. Eigentlich sollte es einfach sein. Könnte man meinen. Da ich aber einen Serienstoff beifügen muss, um für den „Writers Room“ die Werkstatt zu machen, muss ich einen neuen Stoff erarbeiten.

Ja, diese kleine Ökoterroristin will ich noch einmal anheben, sie wachsen lassen. Ich dachte, eine bisschen die U. Meinhof einzubringen. Nachdem ich aber gerade mal ein wenig die Biografie bei Wiki gelesen habe, muss ich sagen, dass sie sich vielleicht weniger eignet als ich dachte. Ihre Biografie liest sich so, als habe sie schon immer politisch gehandelt und als habe man sie deswegen sehr menschenrechtsfeindlich in der Haftzeit behandelt. Meine Ökoterroristin soll wegen ihrer sozialen Isolation sich selbst zunehmend radikalisieren, weil sie sich zum ersten Mal gesehen fühlt. Wenn wir Bestätigung für irgendetwas bekommen, was wir gemacht haben, neigen wir zur Wiederholung, weil wir Bestätigung wollen, für unser Selbst. Wenn wir Glück haben, können wir uns davon befreien, wir können es durchschauen und erkennen, dass wir für etwas und nicht um unseretwillen geliebt werden. Da wir aber meistens gar nicht so objektiv von außen auf uns gucken können, bekommen wir diesen Moment oft gar nicht mit. So passiert es meiner Ökoterroristin, die sowieso sehr jugendlich ist und noch immer irgendwo nach Anschluss sucht, dass sie sich selbst für eine wichtige Person im Kampf gegen die Klimakrise hält.

Als Serienstoff will ich meine Serienidee Nummer eins nicht verwenden. Ich will diese Idee nicht für einen Probelauf verspielen. Wenn ich mit den Y-Chroniken bei einem Produzenten oder einer Produzentin starten will, dann mit einem guten Konzept und einem Papier in der Tasche, dass mich zumindest nicht mehr ganz so laienhaft aussehen lässt. Und da habe ich in den Tiefen meines Geistes die Idee ausgegraben, die als Komödie zumindest witzig ist: Das verschwundene Land. Die Zwergen als Bösewichter des Universums. Das ist doch mal was anderes. Ein Mix aus Fantasy, Märchen, Science Fiction und Komödie mit Drachen, Antihelden und vielen süßen Hinweisen quer durch die Kinderfilmklassiker: Alice im Wunderland, Peter Pan, Findet Nemo, Drachenzähmen leicht gemacht, Jim Knopf, Die unendliche Geschichte, Märchenbraut. Das sich auszudenken, ist wirklich lustig. Irgendwie ist es ein satanarchäolügenialkoholischer Mix. Wie ich das auf zwei Seiten darstellen soll, weiß ich allerdings nicht. Ich formuliere herum und experimentiere am offenen Körper.

Um das Experiment zumindest ein wenig erfolgreicher zu machen, sollte ich vielleicht einen Writer’s Circle einberufen, damit das Ganze ein bisschen mehr Konturen bekommt. Mal sehen, ob es dafür Interessentys gibt.

Als Dialog würde ich vermutlich eine Stelle aus der Ökoterroristin nehmen, denn daran habe ich ja schon technisch gefeilt und gearbeitet. Ja, den Text finde ich hier und da trocken, die Story auch, ist aber gut ausgereift. Mal sehen, ob ich dann bei diesem Durchlauf erfolgreich bin.

Segel hissen und gleiten lassen – eine Allegorie für das Leben

Ringsum Wasser, schlammgrünlich im IJsselmeer, in der Sonne kleine Glitzerpunkte überall, am Bug schäumt das Wasser leicht auf und verkräuselt sich. Und man kann nichts tun als es zu genießen, als zu liegen oder zu sitzen und zu genießen, was das Leben dir gerade bietet. Natürlich kann ich dabei Lesen, quasseln oder ein paar Notizen machen, doch irgendwann fängt dich das Meeresrauschen mit dem leisen Säuseln in deinem Ohr „Pause, Pause, Pause“ oder „Wozu? Wozu? Wozu?“ ein.

Was für eine Lebensallegorie erzählt uns dieser Moment, dieser eine, den ich festhalten möchte?

Foto von Monika Maria Luisa Schmidt 2023

Es ist einer jener Glückmomente, die ich wie kleine Perlen sammle und am Ende des Tages betrachten will. Diese gesammelten Glücksperlen sollen mich einst noch einmal glücklich machen, wenn es langsam in meine Kopf zu dämmern beginnt und wenn ich nur noch die Erinnerungsreisen antreten kann.
Ich strample mich im Alltag ab, möglichst viele kleine Oasen der Entspannung zu finden, möglichst in der Gegenwart zu verweilen und doch ist es eine der schwersten Disziplinen. Meditation, Yoga, Besinnung auf den Moment, auf den Tag, nicht in die Zukunft eilen, nicht in der Vergangenheit weilen und dazwischen nicht nur träumen, von etwas, was nicht ist und nicht kommt. Nicht zu viel planen, nicht zu viel organisieren, nur auf das Überschaubare setzen und doch: das Musical, der Umzug, das große Aussteigen 2025, die Optionen danach, die Chancen danach, die Angst davor, hier noch eine Tangoreise – vielleicht eine letzte – und KAST noch einmal als Teilnehmerin, der Roman, der nächste Roman, die nächsten Texte, die Ausschreibung im Winter und jetzt jetzt jetzt. Kaum häng ich einer dieser vielen Baustellen nach, öffnen sich kleine zusätzliche Baustellen, wie von Geisterhand. Dazu dann die Sorge, dass ich den Überblick verliere, dass meine Listen nicht gut sind, dass ich mehr und schneller was tun muss.

Dann das Segeln. Wie einfach kann es sein, aus der Zeit zu fallen. Der Blick verläuft sich in der Weite, kaum etwas auszuwerten, kaum etwas zu bedenken, zu entschlüsseln. Der Wind trägt alle nicht zu trägen Gedanken einfach fort und übrig bleibt dieses „Ah, ist das schön“.

Also dieses Wochenende – ich will das nicht verhehlen – hatte noch mehr zu bieten. Olli ist ein Meister in der Küche, er verzückt und verwöhnt unsere Gaumen. Andre, Barnie und Jonas sind sehr lustige Menschen, die die Heiterkeit der Gruppe befördern, bis man Bauchschmerzen bekommt. Leon ist reifer geworden, interessant, ihm zuzuhören. Yvonne meistert die Gesprächstiefen; der Rest geht auf in Wolken der leichten sprudeligen Sorglosigkeit netter Unterhaltungen. Hier und da werden Impulse gesetzt, kommt es zu ungeahnten Tiefen, die jedoch keine Schwere bieten. Alle Frauen sind herzlich und offen, Franzis Liebe und Sorge zu ihren Kindern wäre zu nennen, ebenso wie Jennys Freude an der Unabhängigkeit für eine Woche oder Monikas Bestimmtheit bei feministischen Themen und ihren guten Blick für Fotos (wie dieses hier). Insgesamt also ein Wochenende der Bereicherung und Entspannung.

Foto von Monika Maria Luisa Schmidt 2023

Oh, ich will das wieder haben … wieder ein Wochenende entspannt auf Deck liegen, an Tauen ziehen, in der Küche den Abwasch nach einer superleckeren vegetarischen Bolognese machen und wieder mich in den Schlaf schaukeln lassen. Ich will wieder durch eines dieser verträumten süßen kleinen Orte schlendern und ein Bier trinken, dass hier viel zu süß wäre. Ja ich will.

Wenn das Ende in Sicht ist – noch 15 Monate Schule

Freudige Erwartung und unsichere Beklemmung. Immer dieselbe Mischung. Bei mir überwiegt die gespannte, neugierige Erwartung dessen, was als nächstes passiert. Um mich herum höre ich Warnungen. Jetzt geht es mir doch gut. Jetzt kann ich ohne Bedenken machen, was ich will. Jetzt ist doch alles sicher! Verrückt, wie alle daran schrauben, meine Beklemmung hochzusetzen. Ein paar wenige Menschen um mich herum freuen sich für mich, weil ich mich von einer schweren, erdrückenden Last befreie. Als wäre Geld wirklich alles, was gut und sicher ist. Als wäre wirklich Geld das, was uns glücklich macht. Klar, es beruhigt sicher vor allem die Ängstlichen, doch kann ich mir dafür auch keine Gesundheit kaufen, wenn mich die Schule leer und ausgehöhlt hat. Das kranke System schafft kranke Menschen. Wie viele zerbrechen daran?

Auch amüsant ist, dass die meisten Menschen zu denken scheinen, dass nach der Schule und dem Job als Lehrerin nichts mehr kommen kann. „Was willst du denn machen?“ Toll ist der Satz: „Hast du dir das gut überlegt?“ Nein, hab ich nicht, ist eine Bierlaune gewesen und ich kann nicht mehr zurück. Haha. Es gibt Ideen für eine andere Tätigkeit, es gibt Pläne, es gibt Optionen. Irgendwas findet sich bestimmt. Soll ich mir Sorgen machen? Bis dahin ist noch viel Zeit zu überwinden, oder wenig. Je nach Betrachtung.

Wir haben September und ich wollte bis November den Roman veröffentlicht haben. Ich befürchte, das wird nicht klappen. Weil jetzt schon September ist. Ich will das nicht über’s Knie brechen, doch ohne zumindest ein Korrektorat wird das nicht gelingen. Und niemand fühlt sich verpflichtet, wenn er nicht dafür bezahlt wird. Dafür zu bezahlen scheint mir unsinnig, weil ich ohnedies daran nicht verdiene. Merde also.
Wir haben September und der Tangotext für den Barcelona-Band ist noch nicht geschrieben, sollte aber. Ich hab da nicht mehr viel Zeit für. Statt also diesen Text anzufangen, hab ich mich für diesen Blogeintrag entschieden. Was ist also falsch?
Wir haben September und das Musical ist dran. In einem Jahr genau wird die Aufführung sein. Genauer sogar drei oder vier Aufführungen – vor den Herbstferien. Der Text steht noch nicht ganz, der Text ist nur grob geplant. Also wird es Zeit, den fertig zu machen.
Wir haben September und ich wollte im Oktober umgezogen sein, spätestens. Eigentlich ja direkt nach den Sommerferien. Ich will schließlich Geld sparen, dafür brauche ich eine kleine Wohnung. Mir fällt es schwer, nach einer Wohnung zu suchen, weil ich nicht weiß, wie das mit dieser Wohnung werden soll in Herne. Diondra ist auf dem Sprung. Wenn sie wirklich aktiv sucht, dann wäre es sinnvoller, wenn wir zusammen aus der Wohnung rausgehen und alles gemeinsam auflösen. Außerdem erfordert es endlich von mir eine Entscheidung, wohin mit dem Krempel, den ich behalten und verwalten will?!
Wir haben September und die Steuern warten schon lange. Sie sind ja eigentlich schnell gemacht, aber ich brauche dennoch Zeit dafür. Alles zusammensuchen und eintüten und sichten und auflisten … Puh. Ich meine, es lohnt sich ja, diesen Aufwand zu betreiben. Manchmal frage ich mich, ob mir das Geld das nicht wert ist. Vor allem muss ich das Steuerprogramm käuflich erwerben.
Was ich auf die Reihe bekomme, hat selten damit zu tun, was ich eigentlich muss. Ich ahne, dass es einen Moment gibt, an dem es einfach von der Hand fließt, doch was, wenn ich einfach nur versacke?

Fünfzehn Monate, das ist nur scheinbar viel Zeit. Eigentlich ist die Zeit schon um. Vor allem, wenn ich überlege, was darin alles schon wieder verschwindet: das Musical, Lesungen, Tangofahrten, Auto besorgen und umbauen, alle Verbindungen zu Vereinen und ähnlichem kappen; dann wird die Zeit doch sehr schmal.

Italien für drei ganze Wochen – was kann ich sprechen?

Woche 1 Verona und so – Hitze und Hetze

Ankunft 11. Juli 2023 (Dienstag)

Ankommen und keine Unterkunft haben könnte mit anderen Menschen anstrengend sein. Wir hatten freundliche Unterstützung von dem Menschen, bei dem wir zwar gebucht hatten, aber systemisch bedingt storniert wurden. Es dauerte etwas länger und knabberte den halben Tag weg. Schließlich hatten wir einen Ersatz, der zumindest die notwendigen Bedürfnisse gestillt hat. Da wir in dem Objekt unserer Wahl saßen und beratschlagten, wohin es denn nun gehen konnte, sahen wir auch die unerreichbaren Trauben. Wir hätten schöner wohnen können. Gut, dass dieses Ereignis nicht unsere Laune trübte.

12. Juli 2023 (Mittwoch) Am nächsten Tag Schach Matt durch Migräne. Auch unschön. Den ganzen Tag schlafen und schlafen. Abends erst ausgehungert los. Der Mann hatte schon seinen ersten Sonnenbrand und ich Nachholbedarf. Versprochen, dass wird trotzdem ein schöner Urlaub.

13. Juli 2023 (Donnerstag) Tag 3 dann gemeinsam Verona abgelaufen, alle Ecken bei Tage ein zweites Mal.

14. Juli 2023 (Freitag): Fein machen für die Oper „La Traviata“. In der Stadt strömen andere Menschen in schicken Kleidern Richtung Arena.

Eine besondere Atmosphäre war es allemale, doch teuer, weil man dort Getränke abnehmen musste, wenn man durstig war. Natürlich konnten wir die große Wasserflasche nicht mit hineinnehmen. Allerdings war die Akustik nicht so gut, wie gewünscht und man konnte auch ohne Operngläser gar nichts sehen. Zwar war die Kulisse für die Arena gemacht, nicht aber die Handlung, nicht aber die Inszenierung. Und da wäre sicher mehr gegangen – technisch gesehen.

15. Juli 2023 (Samstag) Doppeldisziplin: Vicenza und Venezia

Wir fuhren mit dem Zug nach Vicenza. Ein Stückchen weiter – soweit war es uns klar – beginnt dann Venedig. So groß und so wahnsinnig spannend war Vicenza nicht. Ob uns Venedig für mehr als ein paar Stunden reizen würde, wussten wir auch nicht. Zwei Städte an einem Tag, Steine, Fotos, weiter. Unterschiedliche Bedürfnisse wurden hier zur Deckung gebracht. Venedig hätte Zeit und leere Gassen gebraucht – zumindest für mich. Sicherlich eine sehr reizvolle Stadt, doch in diesem Tempo, mit diesen Massen sättigte meinen Bedarf dann vollständig. Vielleicht eine wirklich reizvolle Stadt, doch es braucht für mich einen anderen Rahmen.

Meter für Meter liefen wir durch die beiden Städte, so dass ich dann wegen der Hitze und wegen der Unruhe irgendwann am Kanal pausieren musste, mir Pistazien knabberte und dem Treiben zuschaute. In Vicenza hatte ich diese Phase auch gebracht und mit einem Pizzaessen verbracht. Ich brauche in der Hitze meine Phasen der Ruhe und sowieso sitze ich gerne irgendwo, nehme die Atmosphäre in mir auf und beobachte mich in diese Welt hinein.

16. Juli 2023 (Sonntag) ausschlafen und neue Ecken in Verona suchen – irgendwohin fahren mit dem Bus, weil es darin kühl war. Am Schluss bekommen wir doch wieder eine Kilometerpauschale und wir machen Meter. Wir haben uns Zeit genommen für einen Kaffee getrunken und Tiramisu dazu gegessen.

17. Juli 2023 (Montag) zum Gardasee: Peschiera dell Garda, Sirmione

Einen Tag lang keine Städtetour, keine Steine fotografieren, lieber einmal in einen Park oder sowas erbettelte ich mir. Deswegen fuhren wir nach Peschiera (gesprochen: Peski-era) dell Garda, um nach Malcesine (gesprochen: Maltschesine mit Betonung auf der zweiten Silbe) zu fahren. Direkt vor Ort warteten wir auf den Bus, der immer verspätet fährt (wie ich später feststellte) und entschieden uns, lieber mit der Fähre nach Sirmione zu fahren. Dafür saßen wir erstmal in diesem nichtssagenden Peschiera fest.

Dann fuhren wir mit der Fähre nach Sirmione. Die Halbinsel lässt sich leicht laufend erkunden, was wir trotz der Hitze auch taten. Erfrischende Abwechslung gab mir, dass wir teilweise wir durch den See waten mussten, denn der feste trockene Untergrund hatte an der Spitze der Halbinsel Lücken. Meine Sandalen waren seetauglich, die Turnschuhe nicht, so dass er deutlich vorsichtiger sein musste. Im See schwammen viele kleine Fischlein und Moos bedeckte die Steine. Ja, man hätte sich wie all die anderen einfach an den Strand legen und das Leben genießen können, doch wir sind weiter – zurück mit der Fähre und zurück nach Verona.

18. Juli 2023 (Dienstag) Abreisetag für meinen Reisegefährten. Nach einer Woche fiel ihm das schwer. Mir auch. Einen letzten Cappuccino, ein letztes Croissants und da steht der Bus schon bereit. In der Stadt fuhr der Mann zum Bahnhof, ich hingegen ging zu meiner nächsten Unterkunft. 9 Kilometer außerhalb der Stadt und ich wollte komplett zu Fuß hingehen.

Zwei Wochen allein weiterreisen – was kommt auf mich zu?

Passieren, so viel ist sicher, kann mir ja nix: zivilisierte, europäische Welt und ich bin mit einem universalen Wissenskoffer im handlichen Taschenformat (Smartphone) und dem universellen Verständnishelfer hauptsächlich bestehend aus Plastik (Kreditkarte) unterwegs. Außerdem bin ich weit aus dem riskanten Frauenalter raus, bald beginnt die Zeit, da ich froh sein muss, wenn ich als attraktiv genug gelte, damit man mir nachschaut. Alles Sorgenmachen fällt also bei Licht betrachtet sehr schwer. Langeweile habe ich auch wenig mit mir, aber vielleicht gibt es ja Dinge, die in meinem Kopf auftauchen, die ich ungern aushalte. Aber auch das ist nicht weiter lebensgefährdend.

Bin ich allein unterwegs, dann nehme ich mir sehr viel Zeit für die Wege und schau, was sich mir zeigt und was seine Aufmerksamkeit will. Einen Plan, was genau ich sehen muss, wohin ich gehen muss und dergleichen, fehlt mir oft. Einer meiner letzten Ex hat das auf unseren Touren immerzu heftig kritisiert, hat mir vorgeworfen, nicht richtig zu reisen und schon gar nicht zu wissen, was ich will. Er hat zumindest mit letzterem ein bisschen Recht, nicht insgesamt, aber ein bisschen. Das richtige Reisen ist ja so, wie das falsche Reisen oder Fehlschritte beim Tango zu machen. Das geht letztlich nicht. Es gibt nur eine eigene Tonalität vom Reisen und wenn die mit dem Reisepartner nicht übereinstimmt, dann findet man vielleicht eine Schnittmenge oder man stellt das gemeinsame Reisen schlicht ein. Mein Allein-Reisen hat mir allerdings erst gezeigt, was ich mir von meinen Reisen erhoffe und außerdem, wie anpassungsfähig an meine Reisebegleiter bin. Ich bin bereit, viele Abstriche von dem zu machen, was mir selbst Vergnügen bereitet. Jetzt bin ich NULL vorbereitet. Ist auch nicht schlimm, Wege entstehen ja beim Gehen.

Ich laufe also meine erste Schlafstätte ohne Mann an. 9 Kilometer raus aus Verona durch 34 Grad Hitze meist ohne Schatten und zunächst auch ohne Wasser. Völlig verrückt. In einem kleinen Supermarkt erstehe ich zwei Nektarinen und eine Flasche Wasser, die ich bis zum Ziel auch leere. Ich werde von einer lieben Gastwirtin in Empfang genommen, auch eine Reiseseele und bekomme als erste ein Wasser. Ihr Haus gleicht einem Museum, alles liebevoll zusammengetragen und arrangiert, wie man an dem Bild und dem Hut auf dem Ständer sehen kann. Wir kommen ins Gespräch.

Maggie bringt mich aus reiner Freundlichkeit am nächsten Tag nach Garda. Sie plaudert über die Gegend und erzählt mir, dass es bei Borghetto einen sehr schönen Park gibt, den ich mir unbedingt ansehen soll. Außerdem muss ich dort Tortellini essen. Hätten wir das früher gewusst, wären ich und mein Freund sicher dorthin gefahren. Also eine Idee, die wir noch einmal aufgreifen werden, denn wir sind uns einig, wir müssen nochmals herkommen – nur zu einer anderen Jahreszeit (März, April).

Malcesine (19. – 22.7.23) – pittoreskes Dörfchen

Malerischer kann eine Gegend kaum sein. Berge um den See, klares Wasser und Sonnenschein. Wäre nicht überall nur Deutsche, wäre es wirklich fantastisch. Nein, man spricht mich überall auf Deutsch an, sobald ich Buongiorno gesagt habe. Als ich aus dem Bus gestiegen bin, falle ich förmlich in mein gebuchtes Hotel direkt am See. Das Zimmer sei noch nicht fertig, erklärt mir der Hotelier auf Deutsch. Ich könnte bei einem Kaffee als Willkommensgruß warten oder das Gepäck stehen lassen. Ich wähle den Kaffee mit dieser Aussicht.

Es ist so entspannend, dass ich den ganzen Tag dort sitzen könnte und schon in dem Moment überlegte, ob ich eine Nacht anhängen solle oder nicht. Malcesine als touristischer Ort ist auf jeden Fall niedlich. Sehr viele Restaurants, kleine Gässchen, Geschäftchen, alles schön.

Zwei Ausflüge plus ein bisschen Ausruhen bei der Hitze und schreiben erlaubte ich mir an diesem Ort. Erstens besuchte ich den Berg, was ganz sicher eine schöne Idee war, wie die Bilder beweisen. Auf Monte Baldo begegnete ich dem ehemaligen Klassenlehrer von Lucy, Herrn Diedrich. Ich kam von Toilette, er wollte hin, auf der Treppe kam es zu einer unausweichlichen Begegnung. Es war eine sehr freundliche Steh-im-Weg-Begegnung. Außerdem hatte ich eine interessante langandauernde Falterbegegnung, denn der kleine Falter setzte sich auf meinen Finger und schlürfte genüsslich meinen salzigen Schweiß von der Hand.

Zweitens besuchte ich von dort aus Limone, was auch eine gute Idee war. Ich dachte, was für ein superorigineller Name für eine Touristenstadt, doch es hat seine Bewandtnis damit. Als Laie weiß man natürlich nicht, dass die Stadt wegen ihrer Zitronengärten, die über Winter mit Glas und Holzbauten geschützt wurden, einzigartig im 19. und Anfang des 20. Jahrhundert waren, so dass von dort aus die Limonen und Zitronen und alle Unterarten in die westliche Welt geliefert wurden. Ja, auch mein Wissen wurde durch das Museum erweitert. Jeder Text dort natürlich auch auf Deutsch.

Die Stelen im letzten Bild erinnern noch an die Vergangenheit, dass nämlich überall diese terrassenartig angelegten Limonengärten das Bild prägten. Heute prägt das Stadtbild die Touristen, die in kleinen Lädchen, Limonen aus Stoff, auf Papier gedruckt oder gestickt kaufen.

Paderno (22.7.23) nur für eine Tangonacht.

Wehmütig verließ ich Malcesine, lief ein bisschen durch Garda und dachte mir, dass das zwar auch ein schnuckeliges Örtchen sei, aber doch bei weitem nicht vergleichbar mit Malcesine war. Es wirkte für mich nicht so einladend und verträumt zugleich. Von da aus dann auf der Fähre nach Desenzano und dann mit dem Zug das letzte Stück nach Bresia und weiter mit dem Zug bis zum Hotel.

Von Brescia hab ich nichts nennenswertes zu berichten, denn Paderno ist doch ein sehr uninteressanter Vorort, der nur für mich der Tangounterhaltung diente. Die Anmeldung lief per SMS vorab mit Bestätigung, gebucht inklusive Praktika. Da es soweit entfernt von mir war und ein Bus nicht hinfuhr, dachte ich mir ein Taxi zu gönnen. Die Dame an der Rezeption lachte. Am Wochenende müsse man ein Taxi reservieren. Sie probierte es dennoch bei drei Unternehmen. Fehlanzeige. Dann brachte sie mich freundlicherweise. Ich war begeistert, sonst wäre aus der Praktika nichts mehr geworden. Bei der Praktika trainierten wir die Verzierung für Herr und Dame. Die Praktika habe ich mit zwei Männern durchgeführt, weil zu wenig Damen anwesend waren. Der eine war ein deutschsprechender Mann Names Massimo, der sich immer wieder versicherte, dass er nicht zu stark führte; der andere ein roher, blutiger Anfänger, der noch schlechter Englisch sprach als ich. Ich wollte tanzen und ich tanzte auch mit diesen beiden Exemplaren. In Italien fordert die Frau nicht auf. In Italien sitzt man auf dem angewiesenen Platz. In Italien spreche ich die Sprache nicht. Ich war ein Exot, aber nicht exotisch genug, damit die Herren neugierig waren. Auf Massimos Wunsch hin zeigte mir der Tanzlehrer, wie die Figur geführt wird und erklärte Massimo, dass ich das könne. Im Laufe der Milonga erkannte dann auch Massimo, dass ich deutlich über seinem Niveau tanzte. Leider wurde ich von anderen Männern wenig aufgefordert, obwohl ich den Herren ein Loch in ihre Gesichter guckte. Schlussendlich hatte ich ein paar wirklich schöne Tänze und ein paar nette Gespräche mit Massimo. Am Schluss bedankte er sich, dass ich überhaupt mit ihm getanzt hätte. Ich erklärte, dass wir Damen in Deutschland uns selten verweigern, schließlich sind wir alle nur auf dem Weg und jeder oder jede kann es nur lernen, wenn man auch mit besseren tanzt.

Und als ich nach einer wirklich schönen Abschlusstanda zum Hotel laufen will, werde ich nach einem Kilometer von einem Tangotanzpaar aufgegriffen und zum Hotel gefahren. Ich war dankbar.

Bergamo (23.7.23) – eine Stadt aus Mauern.

Warum genau ich hierher wollte, weiß ich gar nicht, aber jetzt, da ich sie gesehen habe, denke ich, ich würde gern mal mehr Zeit dort verbringen. Eine wirklich interessante Stadt, geprägt durch viele viele Mauern. Sicher auch dem geschuldet, dass es eine Ober- und eine Unterstadt gibt – verbunden durch eine Funicolare (Seilbahn) – , aber das ist es nicht allein. Ich finde sie sehr reizvoll und kann nur sagen, dass ich mich auf einen zweiten Besuch freue und fahre dann auch mit der Seilbahn.

Mailand (24. – 27.7.23) – direkt am Bahnhof liegt das Hotel.

Aus dem Italienisch-Unterricht wusste ich vom Dom, von dem großen Platz, den Modegeschäften und natürlich auch von der Madonnina, damit wusste ich mehr von dieser Stadt als von allen anderen Städten, die ich bisher gesehen hatte. Zwiespältig war ich, ob ich hier sein wollte, nach Malcesine und dem schönen Gardasee oder nach Bergamo. Diese Stadt jedoch hat was ganz besonders.

Am ersten Tag lief ich zunächst nur zur Orientierung herum. Dachte mir, dass ich am nächsten Tag mit den alten Trams fahren könnte, bewahrte mir das San Franzisco-Flair auf. Wollte auch Chinatown, Parks und andere Stadtteile erst später erkunden. Ich freute mich schon auf den dritten Tag, an dem ich mit meinem Rechner, einem kleinen Picknick in einem Park auf meiner bunten Decke sitzen würde, um dann zu schreiben. So waren meine Ideen.

In der Nacht kam es zu einem gewaltigen Sturmböen, Hagel und Regenfällen, die noch am nächsten Tag überall deutlich ihre Spuren hinterließen. Die Tram fuhr nicht, die Parkanlagen waren alle geschlossen, überall sah man umgeknickte Verkehrsschilder, entwurzelte und gebrochene Bäume.

Eine nicht-fotogene Chinatown zum Beispiel, in der ich eine der besten Pediküren hatte, die ich je im Leben genießen durfte; günstig war sie zudem. Die Fußmassage dauerte allein eine Stunde bestimmt. Es war sehr angenehm. Wenn ich meinem Geld nicht böse bin, geh ich morgen hin und lass mich massieren, bevor ich heimreise (habe ich doch nicht getan, war anders beschäftigt). Ich habe in dem Stadtteil auch Dumblings gegessen, die waren ganz gut.

Cimitero Monumentale (seit 1866)

Dann bin ich auf einen Friedhof zu gestolpert; das Gebäude sah von Ferne interessant aus. Das Castello hatte ich einen Tag vorher schon gesehen (umrundet), aber das Gebäude erinnerte auch an eine Burg oder Festung. Nein, es war aber ein Friedhof. Sehr spannend, wie reiche oder adlige Familien ihre Toten bestatten, mit welchen Phantasien sie dieses ins Jenseits schicken. Zwei Stunden bin ich dort spazieren gegangen und hatte nicht genug von den vielen verschiedenen Gruften, Grabskulpturen und Bildchen auf den Urnenplätzen bekommen. Die Gruften und Gräber sind so interessant und kunstvoll gestaltet, dass sie Geschichten erzählen. Ich hatte das Gefühl, hier könnten nach Mitternacht doch die Toten aus ihren Gräbern steigen und tanzen.

Dieser Friedhof ist eine traumschöne Kulisse für Filme, egal ob für eine Horrorkomödie oder einen Fantasiefilm. Man kann sich gar nicht satt sehen an all den Darstellungen. Da ist das Grab mit einer demütigen, geschwächten Prometheusfigur (zumindest würde ich sie so interpretieren) einer Familie, in der zwei Männer den Vornamen Cesare trugen, daneben eine abgewandte Figur aus de letzten Jahrhundert mit abgestelltem Gewehr. Allein diese Kombination, die mir sehr zufällig erscheint, erzählt eine Geschichte. Dann ist dort zentral ausgestellt eine Familiengruft, die wie ein christliches Denkmal aussieht und die Leiden Jesus als Erzählband auf einer sich verjüngenden Säule erzählt. Eine mehrere Meter hohe Gruft, ästhetisch schön gemacht und doch erzählt sie nur vom Leid. Auf einem Grab sitzt zurückgelehnt und jovial ein junger Lebemann, als würde ihn das Treiben um ihn herum amüsieren. Wieder ein anders Familiengrab zeigt zwei Männer, Schulter an Schulter auf einem Bein knieend vor einem Säulengang. Sieht man von der anderen Seite, so haben beide Männer die Köpfe mit geschlossenen Augen aneinander gelehnt. Ihre Mimik in stummer Trauer. So kunstfertig sind manche Gräber, dass sie für sich stehen können würden und doch im Rahmen all der anderen Skulpturen und architektonischen Bauten kaum mehr zur Wirkung kommen. Es ist, als wetteiferten die künstlerischen Arbeiten miteinander.

Auch hier waren die Spuren des Sturms deutlich, einige Gräber waren dadurch sogar beschädigt. Manche Spuren erschienen mir allerdings älteren Ursprungs zu sein.

Auch an meine letzten Tag hatte ich keine Gelegenheit, mit der Tram zu fahren. Die Parkanlangen waren noch immer geschlossen, so dass ich mit meine Laptop unterm Arm weit herumrannte, nichts zu finden, wohin ich mich setzen und arbeiten konnte. Manchmal ist ziellos auch einfach genau das: ziellos. Auf diesem Nicht-Weg kam ich wieder an der Modewelt vorbei und wunderte mich einmal mehr, was Menschen sich so ausdenken konnten. Ich stolperte in ein Museum, das sowohl Bilder als auf den Raum (als altes Herrenhaus) präsentierte. Die Bilder waren sehr reizvoll, denn sie handelten nicht (ausschließlich) von wichtigen Menschen in großen Portraits, sondern zeigten Szenen des Alltags. Nachgestellte Szenen, die wie eine Momentaufnahme wirkten und in stilisierter Form die Mode dieser Zeit (ungefähr um 1850) wiedergab. Amüsant war für mich, dass ich als Betrachter(in) natürlich wusste, dass es keine echten „Fotos“ waren, die wir machen können, um einen Moment festzuhalten, doch auch unsere vielen Fotos sind oft gestellte Momentaufnahmen. Es scheint also ein Trieb des Menschen zu sein, den Moment nachstellen zu wollen und als „wahr-so“ zu kennzeichnen.

Abends besuchte ich eine Ausstellung zu Leonardo da Vinci, wozu ich keine Fotos machen durfte. Ich habe mich etwas geärgert, weil die Audioführung nicht im Eintrittspreis enthalten war und die Texttafel ausschließlich italienische Erklärungen aufwiesen. Es gab einige interaktive Ausstellungsexponate. Lohnend erwiesen sich die Erklärungen zum „letzten Abendmahl“ und die Anzeige, wie es tatsächlich mal ausgehen haben sollte. Allerdings find ich jedes Mal befremdlich, dass das Abendmahl wie ein Zeitdokument behandelt wird, so als hätte Da Vinci die Geschichte selbst erlebt. Ich würde vermuten, dass Da Vinci eben auch nur die Bibelstelle interpretiert hat, wenn auch sehr anschaulich.

Die Sprache – gesteigerte Fähigkeiten

Es ist erstaunlich, wie viel ich doch verstehe – also wenn es geschrieben steht. Wenn jemand mir etwas erzählt, gerade einfach so heraus, dann verstehe ich selten, was der andere sagt, es sei denn, er pronunziert überdeutlich.
Je länger ich allerdings hier bin, desto mehr Grammatikregeln kommen zurück. Un und una habe ich noch einmal nachgelesen und mich versucht zu erinnern, welche Endungen wofür stehen. Ich weiß, dass ich manche Vokabeln kennen sollte, weiß aber deren Bedeutung dann doch nicht.

Blöd ist es, dass ich noch immer jeden Satz bauen muss. Ich hab kein zugängliches Konstrukt. Und noch blöder finde ich, dass ich mich zwar bemühe, die Sprache einzusetzen und mir über die korrekte Aussprache viele Gedanken mache, aber dass ich selten wirklich verstanden werde. Häufig, weil ich das „r“ falsch betone. Wenn es denn dann angekommen ist, dann ist doch meine Aussprache nicht so richtig falsch, nur eben nicht italienisch genug. Vor allem am Gardasee verriet sie mich immer als Deutsche. Ich sagte „Guten Tag“ auf italienisch und bekam eine deutsche Antwort.

Fazit: Ich werde besser, sammle neue Vokabeln, aber ich habe weniger gelernt als erhofft – zumindest erscheint es mir im Moment so. Außerdem bleibt auch immer die Erleichterung, wenn ich mit Deutsch oder Englisch verstanden werde, dass ich mich nicht so abkämpfen muss.

Was würde sich ändern, wenn es plötzlich keine Männer mehr gäbe?

Eines dürfte sicher sein: Die Welt geht dann nicht innerhalb der nächsten zehn oder fünfzehn Jahre unter, weil keine Babys mehr geboren würden. Es ginge ein Rucken und Rumpeln durch die weibliche Bevölkerung und vieles würde sich vermutlich sehr schnell verändern. Sicher würde alles, was an Männer speziell erinnerte und ein Ärgernis oder einem Steh-im-Weg gliche, entsorgt. Statt Männer gäbe es dann verschiedene Frauengruppen,

  1. die Lieblichen, Sanftmütigen und Intriganten
  2. die Dominanten, Maskulinen, Direkten
  3. die Ruhigen
  4. die Lauten; oder
  5. die Bemalten und Behangenen und
  6. die Nüchternen und Natürlichen

Schnell wäre man bei der Hand mit Differenzierungen, denn der Mensch neigt dazu, zu trennen und zu kategorisieren, zu dualisieren – könnte man sagen.

Wie es dazu kam, dass sich die Welt gegen die Mannheit entschied, ist zunächst nebensächlich, wenn man die eingangs gestellte Frage betrachtet. Würde die eine Hälfte der Menschheit fehlen, würde dies auf die andere Hälfte eine Auswirkung haben, aber welche?

  • ein Teil der Frauen würde sicherlich aufatmen, nämlich weltweit all jene, die durch oder mit Gewalt unterdrückt wurden, die mehr Leid als Freude erfahren haben im Leben: Zwangsprostituierte; kleine Mädchen, die durch wichtige Bezugspersonen vergewaltigt wurden; Zwangsverheiratete, Gefangene durch Religion und Tradition. Das dürften sehr sehr viele Frauen weltweit betreffen.
  • ein Teil der Frauen würde schweren Kummer, schwere Trauer erfassen, nämlich jene Frauen, die lieben und geliebt wurden. Auch das trifft einen großen Teil: Mütter, Liebhaberinnen, frisch Verliebte.
  • einem kleineren Teil wäre es sicherlich gleich, denn sie wissen noch nicht, was ihnen entgangen ist. Dieser Teil stellte zugleich die jüngeren Frauen, die eine Welt hineinwachsen, die sie nicht anders kennen.
  • ein weiterer kleiner Teil würde sich das Leben nehmen, weil sie die Welt ohne Männer öde, langweilig und traurig fänden.
  • vermutlich würde ein anderer kleiner Teil hochgradig aggressiv reagieren und Angst und Schrecken verbreiten, da es ja nun konkurrenzlos möglich ist.

Wie auch immer die emotionale Reaktion sein wird, die Menschen werden aufgrund der Samenbanken überleben. Vermutlich würde sich nach einem längeren Schrecken die Gesellschaft neu sortieren. Es würden Bestimmungen erlassen werden, nach welchen Kriterien eine Frau ein Kind austragen darf und wann nicht. Es würden Frauen mit eingefrorenen Embryos versuchen, ihre Rechte zu sichern. Je nach Not würden diese persönlichen Rechte umgangen oder wirtschaftlich entschädigt. Auf jeden Fall ginge parallel die Forschung weiter, weibliche Eizellen direkt zu befruchten, also zu verbinden, damit die männlichen Samenzellen nicht mehr nötig sind, die Menschheit aufrechtzuhalten.

Wahrscheinlich ist, dass ärmliche Weltregionen, die sich diese medizinisch-technische Ausstattung nicht leisten können, nach und nach entvölkern, wodurch sich die Natur in den Regionen erholen würde.

Zunächst würde auch wieder verstärkt regional Kontakt entstehen, weil man viele Ressourcen schonen müsste (Benzin, Strom, Wasser), bis die Frauen die fehlenden Männer in Beruf und Alltag ersetzen. Vermutlich wird dann eine neue Währung und ein neues Zahlungssystem sowie neue Regelungen des Miteinanders eingeführt, die versuchen, alte Fehler auszumerzen.

Vermutlich gäbe es Gesellschaften, die versuchen, den Mann genetisch zu reproduzieren (also die Samen vor allem nach männlichen Nachkommen zu nutzen, was schief ginge, weil wir ja bereits in China sehen, dass eine Gesellschaft mit vor allem männlichen Exemplaren zur Arterhaltung nicht so richtig schlau ist!), ebenso wie es Gesellschaften gäbe, die vor allem den Mann aus der Reproduktion heraushalten wollen werden. Auch das ist nicht so richtig schlau. Intelligent wäre eine Lücke lassen (weil nun mal zwanzig Jahre Männer fehlen werden) und dann es natürlich nachwachsen lassen – die Natur weiß schon, wie sie sowas richtet.

Aber der Mensch wäre nicht der Mensch, wenn er sich nicht einmischen täte.

Keine Zeit für irgendwas – für was?

Fast Ferien – fast geschafft. Fast auch wieder Platz auf dem Zeitkonto. Fast.

Unser „beinahe“ ist so dicht mit dem „schnell“ der Engländern verwandt, dass man spürt, dass es gemeinsame Wurzeln geben muss und ist es auch nur das Menschsein.

Die erste Hälfte des Jahres hat mich durch wichtige Erfahrungen, durch mein großes Fest und durch zahllose Kleinigkeiten abgehalten, regelmäßig zu schreiben. Aktuell muss ich mich daran gewöhnen, dass mein linker Mittelfinger noch immer nicht so belastbar ist, dass er als Mitglied des Zehnfingersystems gelten kann. Aber was sind schon alltägliche Banalitäten, wenn man sich über die großen Dinge Gedanken macht:

  • Was kann der nächste Job werden? Womit steige ich aus der Schule aus?
  • Wie viele Seiten hat mein erster Roman und komm ich um ein Lektorat herum oder nicht?
  • Wohnung? Wohnen? Wohin?
  • Wann genau will ich raus?
  • Schaffe ich das Schuljahr noch oder lass ich schon jetzt alles hinter mir? Was ist mit meinen Zusagen? Z. B. das Musical.
  • Y-Chroniken als HP fit machen: Wie kann ich starten?
  • Baukaustensystem, um Zeit zum Schreiben zu finden. Ein 450€-Job, Lektorat im Homeoffice und zwei Tage non-stopp schreiben, dazwischen Tango, Tango und Yoga?

Eine Umfrage zu meinem Buchrückentext hab ich soweit fertig, dass ich sie auf den Weg bringen kann. Wer mag mal mitmachen?

https://forms.gle/pcLseFsMEGS3jXMG6

Und doch, fast schon Ferien.

Was darf es werden? – Rätselhafte Zukunft bleibt es … fort und fort

Von irgendeinem fernen Moment in der Zukunft aus wird klar sein, wieso ich mich wann für welchen Weg entschieden habe, doch heute? Ein Rätsel, ein Kraftakt der Entscheidung, ein Widerstreit all der Möglichkeiten.
Ja, jeder Moment kann diese Spannung in sich halten, doch manche Lebensmomente scheinen mich innerlich zu zerbersten, kaum auszuhalten ist diese Unerträglichkeit des Nicht-Wissen, ja das Nicht-Wissen oft so segensreich, ist jetzt kaum zu ertragen. Ach ich glaube auch, ich könnte ersticken an dem Flimmern hinter meinen Augen, wo vermeintlich das Gehirn sitzt. Und das wiederum dürfte allen nicht-theatralen Menschen widerlich überstreckt erscheinen, geradezu klebrig.

Wochen befasste ich mich mit den ersten 50 Seiten, mit dem Exposé und wieder mit den ersten 50 Seiten und dann wieder mit dem Exposé. Noch einmal alles laut irgendwem vorlesen. Meine Auslassungspunkte, […] um die 50 MS-Seiten zu markieren, wanderten wie Krebse vor und zurück und vor und zurück im Arbeitspapier. Neue Auslassungszeichen als Marker. Inzwischen merke ich, wieso das Exposé so wichtig ist, was daran schwierig ist und wie man das in Griff bekommt. Mir schwirrte der Kopf; drehte sich um sich selbst unsichtbar von außen, er rotierte vornüber und seitlich. „Kettenbildende Handlung“, „Wendepunkte“, „Hauptcharaktere“, „Figurenlogik“, „Must, Don’t, Need & Want“ … Jedes Mal wenn ich dachte, jetzt kann man kaum noch was daran schrauben; weggelassen hab ich vieles – alles verschmerzbare Nebenhandlungen. Aber werde die Figuren deutlich genug? Ist die Handlung klar? Zeigt sich die Tonalität? Und schon wieder könnte ich mich im Kreis drehen.

Dieser Wettbewerb (Alfred-Döblin-Ausschreibung) kann meinen Wendepunkt markieren, meinen für das Schreiben. Möglich, vielleicht auch nicht. Was ist, wenn die Geschichte doch keinen Widerhall findet – diesmal? Ich sitze schon hier, beiß auf den Nägeln rum, wenngleich sicher noch keine Wahl getroffen ist – schließlich ist gerade erst Dezember, ein Monat liegt zwischen der Abgabe und dem heutigen Tage.

Aber der nächste Druck steht an der Tür: 7. Januar 2023: Abgabe für eine Drehbuchgeschichte. Und ich weiß gar nicht, welche ich da nehmen soll. Was ist gut genug? Was kann ich bis dahin schleifen? Ich muss endlich meinem Schreiben diesen Raum geben, egal, ob Klausuren mich bedrängen oder nicht. Wir müssen alle dadurch, dass ich mir diesen Raum erkämpfe.

Dann meine vertickenden zwei Jahre, eigentlich noch achtzehn Monate, vlt. einundzwanzig. Wie gabelt sich mein Weg auf? Aktuell sind die Optionen so reichhaltig wie das Menü zu Weihnachten; üppig, zum Anbeißen, Achtung: Völlegefühl. Inzwischen die einfachste Idee ist die, nach Italien zu gehen und einfach alles andere erstmal hinter mir zu lassen, vielleicht irgendwo an der Küste zu arbeiten, bisschen Taschengeld und dann in der Zeit drumherum zu schreiben. Die einfachste, aber vermutlich nicht die richtigste. Und richtig: Richtig kann man überhaupt nicht steigern. Die Frage ist doch: WIE will ich leben? Ich weiß genau, vom Schreiben leben werde ich nicht mehr können. Vermutlich nicht. Zumindest nicht den klassischen Weg vom Tellerwäscher … und so weiter. *haha

  • Ausbildung zur Yogalehrerin? Yoga intensiv? Bringt mich das voran? Ja, vermutlich mich, aber den Rest?! Haha. Zumindest hätte ich eine Jobperspektive – wenn auch nicht für den Lafri-Kurs.
  • Studium Drehbuch? Bringt mein Schreiben ganz sicher voran. Aber auch mich? Auch meine Beruflichkeit? Was ist mit der Lafri-Perspektive?
  • Rückzug und Konzentration auf das Schreiben? Bringt mein Schreiben sicher voran, meine Lebenslust auch, aber auch meine Beruflichkeit? Was ist mit der Lafri-Perspektive?
  • Statt mir Sorgen machen, einfach Reisen – einmal Welt und zurück. Irgendwie geht es ja weiter.

Was also darf es werden?

Schule – warum brennt sie denn nicht endlich? Lehrerausbildung

Im Prinzip wissen wir es alle, zumindest diejenigen von uns, die in dem Betrieb tätig sind:

  1. ist die Ausbildung zu Lehrkraft gelinde gesagt „am Thema vorbei“;
  2. bereitet weder das Studium noch das Referendariat darauf vor, was dann kommt und
  3. ist es absolut unwichtig für die Einstellung als Lehrkraft, ob man mit Kindern und Jugendlichen umgehen mag oder nicht.

Wieso ist das so? Die Ausbildung – falls man das so nennen will – ist völlig verknöchert und alt. Wie eben auch niemand wirklich die Schule reformieren will, so traut sich auch niemand ernstlich an diese fragwürdige Lehrerausbildung.

Referendariat – der Ist-Zustand

Wenn ich jemanden haben möchte, der mir einen Tisch schreinern kann, wieso sag ich ihm dann nicht: „Probier mal dein Glück – und ich sag dir dann, wie dicht du dran warst! Du hast ja schon so Tische gesehen in deinem Leben, weißt ja, dass die vier Beine haben.“ So aber ist die Lehrerausbildung.

Der Referendar bereitet 45 Minuten phasierten Unterricht vor, der davon losgelöst ist, dass er ein ganzes Jahr durchhalten muss, dass es ein aufbauendes Curriculum gibt und dass es immer wieder aktuelle Themen gibt, die den Unterricht vom Lerngegenstand abhalten. Materialvorbereitung, Sätze vorbereitet, Tafelbild vorgeplant. Und in den Seminaren behandelt man Lerntheorien von Piaget und Co.

Nach meinem Referendariat wusste ich nicht, wie ich Gruppen steuere, wie Gruppendynamik zu bremsen ist. „Da hat ja jeder Lehrer sein eigenes Rezept!“ Und das steht sogar in den Standardtheorien von Guru Hilbert Meyer. So ein Quatsch. Natürlich gibt es Regeln. Keine Hundeschule würde sagen, dass da so jeder Halter so sein eigenes Konzept fahren müsste. Ich wusste nicht mal, wie ich einzelne Teile der Gruppe benenne. Wie ich mit Gruppen umgehe, wie ich einzelne Bestandteile der Gruppe identifiziere und was ich dann tun kann, habe ich durch meine theaterpädagogische Ausbildung gelernt. Verrückt. Und das ist das, was ich vermitteln möchte.

Wieso gibt es Nachwuchsmangel?

Meine Kollegin – sehr engagiert, sehr motiviert – erklärte mir, dass sie doch für diesen Stress, für diese Art Arbeit, für diesen Mangel an Erfolg, an Wertschätzung und an Voraussetzungen für gute Arbeit nicht studiert habe. Richtig. Dafür studiert man nicht. Auch nicht für die Ferienzeit, um das mal gesagt zu haben.

Wer also in der Lage ist, mit seinem Studium etwas Sinnvolles zu tun, der tut das auch. Gerade die NW-Fächer – Mangel an der Schule – bieten Spielraum für Großes. Während man nicht so genau weiß, was eigentlich Germanistik sinnvoll machen kann, kann ich mir sofort Spitzenjobs im Bereich Chemie, Mathematik und Physik vorstellen. Also nur um es gesagt zu haben: NICHTS von dem, was ich in meinem Studium gemacht bzw. gelernt habe, wende ich im Unterricht oder meinem schulischen Alltag an. NICHTS. Als Zahl? 0,0. ZERO. Der Inhalt meines Studiums hat mich definitiv nicht zum Lehrer ausgebildet. Er hat mir eine Grundlage für selbständiges Arbeiten vermittelt, was ich immer noch anwende. Doch ehrlich gesagt, hätte es Inhalte gegeben, die ich wirklich nutzen hätte können. Mein Studium hat meine Art zu denken, meine Art Probleme zu lösen, beeinflusst. Hinzukommt eine gute Allgemeinbildung, die ich im Alltag nutze, doch inhaltlich hat mein Studium zu meinem Beruf keinen Bezug. Mit meinem Studium hätte ich ebenso in einer Redaktion oder in einem Museum tätig werden können und genauso sehr oder genauso wenig wäre ich für diese Berufsfelder vorbereitet gewesen.

Aus dieser Ratlosigkeit vieler Gesellschaftsstudiengänge wie Romanistik, Geschichte, Germanistik, Philosophie, Sozialwissenschaften, etc. münden die Studierten und Examinierten in der Schule. Mein Weg war automatisiert, eine Einladung zum 2. Staatsexamen, mit Gehalt und Job. Meinen ersten Fuß in die Schule als Referendarin hab ich nur gesetzt, weil ich nicht genau wusste, wohin ich mit meiner Ausbildung sonst hinsollte. Geblieben bin ich, weil ich gedacht habe, ich könnte – wie arrogant und egozentrisch – was verändern für die Schülerschaft.

Lässt sich nicht Frust und Zeit sparen, wenn man tatsächlich zu diesem BERUF ausbildet? Also los: Was braucht es?

Lernen, was man hinterher im Unterricht braucht

Vorbereitend auf das Fach lerne ich allgemeine Inhalte der Curricula. Bleiben wir im Fach Deutsch, dann würde sich daraus ergeben, dass ich grundsätzlich überlege, wie man Lyrik vom Beginn bis zum Abitur gestaffelt vermittelt, wie binnendifferenziert der Aufbau von Gedichten erarbeitet werden kann. Dann Sachtexte, Theaterstücke, Filme, lange Prosatexte. Das könnte man jeweils vorbereitend für den Unterricht vorwegnehmen.

Wozu wird eine Klassenarbeit geschrieben? Wie sieht der Erwartungshorizont aus? Wie viel Zeit brauche ich für die Korrektur? Wie sieht ein vernünftiges Zeitmanagement aus? Okay, hier hätten wir die Problematik, dass dann seitens des Staates mal gesehen werden müsste, wie viel Arbeitszeit tatsächlich anfällt. Es müsste Zeit eingeräumt werden, für nicht-inhaltliche Unterrichtsaspekte: Anwesenheitsliste prüfen, Entschuldigungen eintragen, abhaken und nachverfolgen, Einsammeln von Geldern sowie der Nachverfolgung der unpünktlichen Zahlenden, Prüfung von Hausaufgaben, von Unterschriften der Eltern, des Schreibens von Notizen für die Eltern oder den anderen Lehrkräften, Eintragungen im Klassenbuch, etc. Das für jedes Fach, wäre ein wertvoller Schritt. Man hat ja zwei Fächer, das ließe sich dann vielleicht auch für drei Fächer verwirklichen.

Und provokant könnte man die fachgerichtete Ausbildung im Grundstudium mit der Frage schließen, wieso zu Kuckuck die jungen Köpfe mit Balladen, Novellen, Romanen, Zeitungsartikeln und ähnlichem vollgestopft werden müssen, wieso sie daran gehindert werden, ihre Finger in Dreck zu wühlen und Fundsachen hervorzubringen, die wie ein Wunder vor ihnen liegen. Wofür nur, wofür braucht es dieses Zeug?

Lernen, was man für den Berufsalltag braucht

Neben den Unterrichtsfächern bestimmt aber vieles andere mein Schulleben und mein Arbeitsleben. Zu glauben, der Unterricht ist der Löwenanteil meines beruflichen Arbeitens, der wird hoffentlich nicht enttäuscht sein, wenn ich ihm jetzt die Wirklichkeit vorführe: Organisieren von Klassenarbeiten, von zusätzlichen Diensten, vom Erstellen von Kopien, von Sich-Informieren über das, was sonst noch wichtig ist, Planen einer Infoveranstaltung zum Thema Facharbeiten-Schreiben, Vertretungsmaterial von einer Lehrkraft besorgen, Aufsichten übernehmen, Vertretungspläne und Mails lesen, Anträge für Unterrichtsgänge stellen, Verkehrswege heraussuchen, Elternbriefe als Information schreiben, sich über Theaterstücke informieren, Arbeitsblätter und Klassenarbeiten und Erwartungshorizonte selbst erstellen, Absprachen mit Kollegys treffen, Curricula implementieren, Listen für irgendwas erstellen, Noten in Listen eintragen und aus Listen übertragen in den Rechner, Klassenarbeitsnoten in einen Ordner der jeweiligen Abteilung eintragen, Minitexte für eine Fächerbeschreibung verfassen, Bücher bestellen, Bücher in Listen eintragen, Bücher mit Schülys holen oder wegbringen, Artikel für die Homepage, Mitteilung über Schülys schreiben oder Kollegys machen, Zuständigkeiten klären, Ausflug organisieren, Projektwochen und Klassenfahrten planen, etc.

Für das Studium könnte das bedeuten, dass Gruppendynamik, Organisation und Struktur, langfristige Planungen, Bewertungsmerkmale, Problematik von Inklusionsklassen, weitere Ämter an der Schule, etc. zu Bestandteilen des Studiums-Curriculums werden. DAS, was gebraucht wird: Deeskalationstraining, Theaterübungen für das Auftreten in der Klasse, Selbstmanagement, Schulrecht, Selbstmanagement Schule, Jugendpsychologie, Grundlagen von Psychosomatik, Medizin und erste Hilfe. Ganz nebenbei könnte man die jungen dynamischen Studierende mit der Frage der Optimierung beschäftigen, so dass sie frischen Wind in die Schulen tragen, wenn sie völlig benetzt von neuen Ideen die alteingesessenen Lehrys überzeugen wollen, von einer Schule ohne Noten, ohne Schulglocke, ohne Fächervorgabe, ohne Raumzwang, ohne irgendwas …

Der Vorteil eines solchen Studiums skizziert gleich auch den Nachteil: Mit dieser Ausbildung wird man tatsächlich und ausschließlich auf die Lehrtätigkeit vorbereitet und die zukünftige Lehrkraft muss schon während der Ausbildung wissen, dass sie das tun will und tun wird, weil sonst das gesamte Studium unbrauchbar für irgendwas anderes ist. Böse wäre jetzt zu unterstellen, dass das vielleicht viele Lehrys abhalten würde, überhaupt Lehrkraft zu werden. Zurzeit scheinen sich in den Beruf nur jene zu verirren, die vielleicht irgendwann falsch abgebogen sind oder die nicht das Rüstzeug für mehr als diesen Weg hatten. Außerdem: Sicher ist sicher. Dieser Job packt die Ängstlichen bei der Lebensangst.

Aber nehmen wir den klassischen Typus, der gerne Lehrkraft wird: kinderlieb, Helfersyndrom, überzeugt davon, die Gesellschaft verbessern zu können, familienorientiert, Wunsch nach Autonomie und Sicherheit, rechtschaffen, leidensfähig, hohes Allgemeinwissen, regelorientiert, sozial, mag keine Veränderungen. Dieser Typus will gar nicht lange studieren und schon gar nicht großartig Karriere machen, möchte aber einen gewissen Status erreichen. Das Studium wäre also maßgeschneidert als Mix zwischen autonomer Selbstfindungskreativität und Rechtsbildung. Bieten wir einen nine-to-five-Job an, bei dem die Lehrys in den Ferien im Büro abarbeiten, was sie noch nicht abgeschlossen haben (Klausurkorrektur und CO), werden Lehrkraftwillige den Universitäten bzw. den Schulen die Türen einrennen.

Utopia Schule

Wo wir uns schon im Land UTOPIA befinden: Es wäre ein Traum, wenn eine jede Lehrkraft einen eigenen echten Arbeitsplatz hätte sowie EINE bezahlte Stunde für Beratungsgespräche, die von Schülys wahrgenommen werden kann. Und wieso nicht auch Lehrkräfte, die keine Lust mehr auf Pubertiere oder Kinder haben (also nach einem ersten vollen Durchgang), an die Universitäten zurücklassen, die dann die nächste Rutsche Lehrys ausbilden – so richtig mit Echtheitszertifikat?

Ach, dann würd ich mir ja den Wechsel überlegen … ehrlich, aber so …