Die Unschärfe des Begriffs Bildung

Ein Gebilde der Kunst




Ein Begriff lässt sich fassen, wenn wir seine Umrisse konturieren. Um den Begriff Bildung zu bestimmen, beginnen wir mit dem Wortstamm: Bild. Ein Bild ist eine Anordnung von kompositorischen Elementen, denen ich einen Sinn entnehmen will. Dabei handelt es sich um einen Ausschnitt von einem unendlichen Raum zu einer beliebigen Zeit. Für das Erfassen benötige ich eine Begrenzung. Das Bild wird als Ausschnitt begrenzt und erhält durch die Definition von Umgrenzung eine Bedeutung. Auf dieser Bildebene verwendet es seine eigene Sprache, die ich als Betrachtende deute. Ich setze das Bild in einen für mich verständlichen Kontext. Ohne alle Bilder dieser Welt zu kennen, erfasse ich, dass etwas diesem Muster entspricht, wenn mir ein unbekanntes Objekt dieser Art vorgelegt wird. 

Mit dieser simplen Formel zeigt sich schnell, dass Bildung nicht die Ansammlung von Wissen sein kann, denn Wissen allein ist unverwertete Information wie der offene Raum zu einem beliebigen Zeitpunkt. Der Begriff „Bildung“ hat jene Unschärfe, wie sie Wittgenstein bereits in seinem Tractatus Philosophicus beschrieben hat, denn was genau diesen Begriff auszeichnet, definiert jede Institution, jeder Philosoph oder jedes Individuum für sich – zumindest könnte man das meinen. 

Von diesen zu verwertenden Informationen wird eine Summe mit Bedeutung gebildet, damit wird etwas, was vorher unspezifisch vorhanden war, angeordnet bzw. zusammengefasst. Wenn ich wie im Beispiel des Bildes davon ausgehe, dass Wissen nicht beliebig angehäuft wird oder dass Erfahrungen sinnhaft erfolgen, dann muss ich weiter davon ausgehen, dass Bildung von Etwas ebenfalls dem Gesetz des sinnstiftenden Zusammenhangs folgt.

Spreche ich von einem gebildeten Menschen, meine ich nicht ausschließlich einen intelligenten Menschen oder einen wissenden Menschen, sondern einen Menschen, der sich auf eine spezifische Weise anderen Menschen sowie seiner Welt gegenüber verhält. Zumeist ist das eine Ehrbekundung, wenn ein Mensch als gebildet bezeichnet wird. 

Gebildete Menschen sind zugleich bescheiden oder zumindest wenig eitel, so wie Sokrates als gebildeter Mensch weit über seine Lebenszeit hinaus bekannt ist. Er soll einmal gesagt haben, dass er nur wisse, dass er nichts wisse. Ein dummer Mensch würde an der Stelle sagen: „Hä, weiß er jetzt was oder weiß er nichts?“ Ein kluger Mensch schweigt und denkt über diese Aussage nach. Ein gebildeter Mensch hingegen nickt und sagt, dass das der Bedeutung des Begriffs „Halbwissen“ von Adorno wohl am nächsten käme.

Adorno meint, dass Bildung erst dann erfolge, wenn ein Individuum sich selbst bilde und selbst bestimmt, mit welchen Inhalten dies geschehen könne. (Theorie des Halbwissens, Theodor Adorno) Woran ich als Individuum reifen kann, wie ich meine Umwelt begreife, dass entscheide ich als Individuum selbst. In diesem Sinne gibt es nach Ansicht Adornos keinen gebildeten Menschen, da doch jede Bildung scheitern muss, weil sie stets von außen an das Individuum getragen würde, bevor dieses selbst erkennen kann, dass es sich in einem Bereich bilden will?

Bei der Beobachtung von Kindern in den ersten sechs Lebensjahren, also bevor sie in die Schule und damit in die Bildungsanstalten kamen, zeigte mir, dass der Mensch lernen will, weil er seine Umwelt begreifen will. Diese Beobachtung deckt sich mit denen von Montessori und Piaget, die dafür bekannt wurden, weil sie den Lerndrang von Kindern beschrieben. Piagets Definition des Lernens mit diesem Bildungsgedanken zu verknüpfen, ist sicherlich bereits geschehen, denn die Ideale der Bildung hochzuhalten, geht immer einher mit dem Lernen an sich.

Die Anlage zum Lernen muss bereits vorhanden sein, denn der Mensch wird wie kein anderes Tier unfertig geboren und besitzt keine Verteidigungswerkzeuge von Natur aus (Krallen, Schnelligkeit, Hauer, Hörner, etc.). Die Fähigkeit, die der Mensch hat, ist ein Gesellschaftswesen zu sein und von anderen Menschen, die er in der Gruppe immer schon vorfindet, zu lernen. Wir werden in eine bestehende Welt hineingeboren und versuchen diese zu begreifen, Schritt für Schritt. Die Komplexität der Welt bringt es mit sich, dass diese Auseinandersetzung mit der Welt ein nicht-endender Prozess ist. So wie ich nicht anders kann, als all das, was mir begegnet, nach meinem Verständnis zu interpretieren und zu verankern, so kann ich nicht aufhören, Wissen zu sammeln und Zusammenhänge zu ziehen. Doch scheinbar gibt es dennoch etwas, was wir dann als Unbildung oder Missbildung im Gegensatz zur Bildung verstehen. 

Nicht jeden Menschen eines bestimmten Alters bezeichnen wir als gebildeten Menschen, obwohl doch alle alten Menschen viel gesehen und erlebt haben. Es gibt Menschen, die sind wissenshungrig, gehen Risiken ein und setzen sich auf  besondere Weise mit ihrer Welt auseinander. Mit einem Bild von Rainer Schröder aus seinem Roman Das Geheimnis des Kartenmachers gesprochen: Die meisten Menschen sind Maulwürfe, manche Adler.

Auch wenn man wie Peter Bieri in Wie wäre es, gebildet zu sein? die verschiedenen Facetten von Bildung skizziert, so bleibt bestehen, dass diesen Begriff eine Unschärfe umgibt, der sich erst je nach Kontext und Gebrauch konturiert. Doch genau durch diese vielfältige Verwendung bleibt dieser Begriff in sich unspezifisch genug, dass er sich wie ein Chamäleon anpasst. Unschärfe gehört zu seinem Fachgebiet.