ZUR SACHE: Die rote ZORA
Wer kennt den Kinderklassiker von Kurt Held noch nicht?
Als Kind habe ich selbst die Fernsehserie in den 70ern gesehen, doch erinnern konnte ich mich nur an die wilde Zora und an die Dame, in die sich der Branco verliebt hatte. Gelesen hab ich es nie, denn die Geschichte von einer Mädchenbande hat mich nur wenig interessiert. Mich hatte Zoras Bemühen um Brankos Zuneigung und ihre Eifersucht eher neugierig gemacht, weil ich mich fragte, wieso ein so lebendiges Mädchen sich anmalt, teure Klamotten trägt und sich unbequeme Schuhe anzieht, nur um einen dummen/blinden Jungen zu beeindrucken.
Und dann spielt meine Jüngste in der einen Aufführung den Gorian. Wer ist Gorian?
Gorian ist der alte Fischer, der seine Fangrechte an „die Gesellschaft“ (Fangereigesellschaft ohne Namen) nicht abtreten will und deswegen allmählich verarmt. Da er nicht mehr so jung ist, durchschaut er verschiedene Manipulationen und Ungerechtigkeiten. Aus diesem Grund unterstützt er später die Bande.
In der anderen Aufführung ist sie KATA:
KATA wird als Hexe bezeichnet und ist Brancos Großmutter. Sie weiß allerhand über die Bewohner des Ortes, weil sie von ihr Mittelchen, Salben und Rat einkaufen. Sie verspricht die Zukunft zu kennen. Alle haben vor ihrer scharfen Zunge Angst, weswegen sie allein und abseits von den anderen mit einem Papageien lebt.
Die Geschichte beginnt mit dem plötzlich verwaisten Branco, um den sich niemand so recht kümmern kann und will. Als er vom Betteln und von Abfällen leben muss, wird er durch falsche Anschuldigungen des Kaufmanns Karamann verhaftet. Zora befreit ihn und nimmt ihn in ihrer Bande auf. So einfach ist es allerdings nicht, nun vielleicht davon leben zu müssen, andere zu bestehlen. Als es den „Vater Gorian“ trifft, den die Bande um ein Huhn betrügt, will er das nicht mitmachen. Zwischen der Bande und Gorian kommt es zu Freundschaften, denn Gorian findet in den Mitgliedern Helfer beim Fang, während die Kinder in ihm eine Helfer in der Not sehen. Gorian ist jene Figur, die die größeren Zusammenhänge zwischen Armut und Reichtum schafft, indem er die manipulativen Machenschaften Karamanns zum einen und das Wegschauen der Dorfgemeinschaft angesichts des Elends der Bande von Zora andererseits aufdeckt und tatsächlich Lösungen findet.
Lucy sah in der Figur jemanden, der eigentlich zu gut für die Welt war, weswegen ihm Unrecht geschieht durch die Gesellschaft und durch Karamann. Dass jedoch er es letztlich ist, der die Kinder vor der Verfolgung schützt, indem er sich für sie einsetzt, führt zur letztlichen Identifikation mit der Figur.
Proben zu dem Stück und Lucys Rollen
Bereits vor den Sommerferien begannen die ersten Arbeiten zu diese Achter-Projekt mit Vorarbeiten, Stückeauswahl und Rollenverteilung. Erstaunlich und auch befremdlich war mir, dass die Projektleiterin das Stück auf zwei Stunden ansetzte und dass sie zudem noch eine doppelte Besetzung einstudieren wollte. Das erschien mir nach meinen Erfahrungen gewagt, ich allerdings habe keine achtwöchigen Projektphasen sondern im Moment zwei Stunden Literaturkurs wöchentlich ohne Sonderproben während der Unterrichtszeit. Ich fragte mich nach dieser Eröffnung, wie das für die Spieler zu bewerkstelligen sein mag. Wieso tun es nicht 75 Minuten, wenn eine Pause für die Geldeinnahmen so wichtig ist (45 Minuten Spiel – Pause – 30 Minuten Spiel)? Können die Kinder diese Konzentration halten, die für Erwachene ebenso schwer ist? Werfen die Spieler nicht die Textpassagen durcheinander, wenn sie zwei verschiedene Rollen im gleichen Stück haben? Keine Frage, es gibt Stücke mit Rollenwechsel innerhalb einer Inszenierung, doch 2x die gleiche Inszenierung mit anderer Besetzung, in der jeder auch dann jemand anderen spielt und dann die Inszenierungen im Wechsel? Das nenn ich mal ein großes Vorhaben. Das birgt Probleme mit der Rollenindentifikation.
Wie dieser exemplarische Probenplan zeigt, hat die Theaterpädagogin von Anfang an die planerischen Aspekte voll unter Kontrolle. Beide Inszenierungen haben vom Umfang ähnlich viel Probenzeit eingeräumt bekommen. Sichere Planung ist die halbe Miete. Für den Bühnenaufbau hat sie darum bereits vor den Ferien vorgearbeitet. Da sie genau wußte, was sie wollte, lief auch der Bühnenaufbau glatt.
Lucy bekommt zunehmend häufiger Anfälle, weil niemand seinen Text kann, keiner richtig zuhört und sowieso niemand spielt, sondern nur seinen Text herunterleiert. Ich sage ihr, dass sie den anderen Spielern Zeit lassen solle. Schließlich hat sie einen enormen Vorsprung mit all ihren Theaterspielen. Außerdem wolle sich niemand auf der Bühne blamieren, weswegen bei der Aufführung alles klappen würde. Sie würden sich erinnern, was die Lehrerin alles gesagt hatte und dann läuft das Stück. Lucy bleibt während der Probezeiten skeptisch und versichert, dass sie lieber bei (der) KAST oder irgendwo privat Theater spielt, aber Schultheater sei furchtbar.
Andererseits ist alles sehr professionell aufgezogen: Die Maskenbildnerin hat falsche Bärte angeklebt, Haare gefärbt und frisiert sowie Schminke aufgelegt. Die Kostüme waren ebenfalls angepasst, gefühlt 150 Jahre alt, dörfisch und südländisch. Die Eltern hatten bei all dem mitgewirkt, Requisiten zusammengetragen, Ausbesserungen von Kostümen und Bühnenarbeiten vorgenommen und nach Anweisung das Bühnenbild aufgebaut oder später die Kinder geschminkt. Aus meiner Sicht unterstützt dieses Rahmenprogram die Spieler darin, leichter in die Rolle zu finden.
DIE Hauptprobe mit Kritik an der Inszenierung
Dann sind die Haupt- und Generalproben öffentlich. Lucy sieht sich betrogen, fühlt sich ausgenutzt für den Tag der offenen Tür und möchte eine ehrliche Hauptprobe. Da ich anwesend war, kann ich das gut nachvollziehen. Die Spieler waren sehr verunsichert, weil Publikum kam und ging und vom Flur immer wieder ein Lärmrauschen durch die Aula drang.
Im Aufbau der Story waren für mich einige Szenen vom Sinn her unklar. Als Zuschauer fragte ich mich, wozu die Fremdgehszene nützt; wieso wir so wenig von der Zora erfahren; was die KATA-Szene 2 bewirken soll, was nicht auch durch eine Mauerschau repräsentiert werden hätte können; wieso nicht auf die Ungerechtigkeit von Fischerei-Gesellschaft und Fischer sowie Ungerechtigkeit arme mittellose Kinder und Karamanns Machenschaften als Schwerpunkt wählen und das nutzen? Ich habe in meiner Ausbildung gelernt (als Schriftstellerin und als Theaterpädagoge), dass es auf meine Prämisse und meine ERZÄHLABSICHT ankommt.
Eine Prämisse soll also aufzeigen, wie der Hauptkonflikt für den/die Protagonisten endet. Das heißt, es geht um die Hauptfigur, den zentralen Konflikt der Geschichte und das Endergebnis dieses Konflikts. Pro und Contra zu PRÄMISSE
Bei einem Roman, bei einer Fernsehserie kann ich ausschweifendes Erzählen und Nebenhandlungen als Rezipient verstehen, auf der Bühne ist das schwer, weswegen Aristoteles bereits vor 2000 Jahren nützliche Regeln einführte, die für das klassische Inszenieren noch immer Geltung besitzen: kurzer Erzählrahmen (ca. 24 Stunden), wenig wechselnde Ort (am besten nur einen), wenig Hauptpersonen (einen Hauptakteur + die Gegenfigur + einen Buddy + eine Liebesgeschichte); einen Erzählstrang. Zumindest das Fremdgehereignis zwischen Bäckerinehefrau und Polizist auszublenden, wäre sinnvoll gewesen, denn die Jugendlichen haben zu dieser Art Erwachsenenliebe noch keinen Zugang.
Der „Bühnenkampf“ war grotesk, zum Himmel schreiend laienhaft. Ein Bühnengeschubse trifft es am eheseten. Da ich gerne Bühnenkampf als Möglichkeit nutze, Bewegung auf die Bühne zu bekommen und damit viele Darsteller in eine Choreografie zu bringen, war ich sehr angegruselt. Mir ist klar, wie viel reale Zeit vom Probenkontingent verschwindet, wenn man einen Bühnenkampf richtig in Szene setzt:
- Regeln aufstellen (mit 8ern die Hölle)
- Vorübungen wie Folgen und Führen, Impulse setzen, Vertrauensübungen
- Einfache Schlagtechniken trainieren (Boxen, Schubsen (muss auch gekonnt sein), Fallen, Ohrfeigen, Haareziehen)
- mit einem festen Partner eine zum Stück passende Schlagabfolge festlegen in Reihenfolge und Form
- das dann schön zusammen auf die Bühne stellen (wer kämpft wo, wie wirkt das von außen, Aufgänge, Abgänge, Auslöser für die Schlägerei und Übergänge?)
- Musik unterlegen
Das Irgendwie-Geschubse fand ich zu laienhaft oder zu sehr Mädchen? Zur Bühnenkampfszene muss ich mich auch trauen, als Darsteller ebenso wie als Regisseur. Ich empfehle hier mal einen Kurs bei Ekki am Grend in Essen. Im Moment ist das leider die einzige Möglichkeit, aber ich arbeite dran. Auf jeden Fall entspannt der Kurs und ist sehr witzig und schweißtreibend.
Am Beispiel der Aprikosenszene möchte ich einmal darstellen, wie ich es gemacht hätte:
Beispiel: Eine Geschichte betrifft die Gymnasiasten, die die Aprikosen herumwerfen. Das hätten sie viel deutlicher als Streich, den sie gerade erst aushecken entwickeln können. Einer langweilt sich, interessiert sich nicht für die Briefmarken, jongliert die Früchte, als er sie entdeckt (Achtung Zirkusprojektverknüpfung) und ein zweiter will auch mal und dann kommt das Ganze in Fahrt. Der daraus resultierende Kampf mit den Bandenmitgliedern hätte mit dem Reißen vom Korb stattfinden können. Mitten drin, wenn schon Spieler am Boden bearbeitet werden, hätte ich Karamann auftauchen lassen, der sofort die Bande beschuldigt, die flieht (hätte mehr Drive und lässt sie ObstfplückereivomBürgermeisterobstbaum als unnötig löschen). Außerdem kann Karamann dann direkt nach der Schlägerei die Gymnnasiasten befragen, wer das mit SEINEN Früchten war. Die beschuldigen natürlich die Bande, was vielleicht der Bäcker später richtigstellt, indem er ihnen ein Alibi verschafft. Dann hätte ich Karamann seine Magd rufen lassen und vor den Zeugen Wirtin, Bäcker, Gymnasiasten und vielleicht noch Gorian abgestraft. Weniger Klamauk sicherlich, aber mehr Profilschärfe bei den Figuren, höhere Motivationen für die Figurenentwicklung.
Die Fischwerfszene habe ich auch nicht als komisch sondern als lächerlich empfunden, sicher waren die Kindergartenkinder von dem Klamauk begeistert. Für mich war es zu wenig ernstlich motiviert. Verstanden hätte ich, wenn irgendwann – beim Erlass vielleicht – alle die Polizisten mit den Fischen beworfen hätten, das wäre passend gewesen.
Das waren meine Hauptkritikpunkte, denn insgesamt gab es ebenso viele gelungene Momente. Das Uskokenlied war mir anschließend als Ohrwurm angehaftet. Ich war beeindruckt, die der Spieler Branko die erste Strophe allein intonierte, wie danach ebenfalls allein Zora die zweite Strophe sang. Als dann alle einstimmen und beide Strophen nochmals singen, ist das sehr berührend.
Aufführung 1…2… drei?
Mit der Premiere platzt dann auch der Knoten und die Klasse spielt als Gruppe zusammen. Lucy ist beruhigt und gibt zu, dass es jetzt doch auch Spaß macht mit dieser Klasse zu spielen. Das Publikum ist freundlich und so kommt es zu einem großen Erfolg. Erst die letzten beiden Shows sind öffentlich und somit für die Eltern zu sehen. Hier ist das Publikum besonders geneigt und geht sehr stark mit, wenn alle auf der Bühne singen. Es gibt häufig Zwischenapplaus und Lacher an den gewünschten Stellen. Nichts desto trotz sind es dann die kleinen Dinge, die mich als Theaterpädagoge bei der dritten und vierten Schau begeistern. Zum Beispiel rettete einer der Jungen die Zora, als sie vor lauter Lachen nicht mehr in ihren Text findet, indem er sagt: „Was Zora eigentlich damit sagen will, Vater Gorian …“ Hinter der Bühne erinnern sich die Jugendlichen an Einsätze, an Requisiten und an Ruhe. Auf der Bühne überspielen sie Wartesituationen, verpatzte Einsätze oder unruhige Momente; so erinnerte einer im Freeze einen anderen an Freeze.
Lucy hat natürlich sehr laut gesprochen, denn sie hat eine tolle Theaterstimme, doch auch die anderen haben das weiter entwickeln können seit der zu leisen Hauptprobe. Kritik habe ich vor allem am überintonierten Theatersprechen. Ich halte es lieber möglichst natürlich, damit die Spieler vielleicht schneller an ihre eigenen Gefühle kommen, wenn sie sich mit der Handlung ihrer Figur identifizieren. Den Bedeutungsheber an die Intonierung zu legen, scheint mir ebenso wie eine übergroße Gestik weniger förderlich, damit die Spieler ins Spiel finden.
Gab es bei der Hauptprobe noch die Schwäche, dass Gefühle nicht gespielt wurden, hier traf es nicht mehr in dem Maße zu: Zoras Eifersucht konnten beide Zoras wunderbar darstelllen, beide Gorians waren als Mittler und selber in Not Geratene überzeugend. Lea als Kata war sehr gut und sicher in ihrer Rolle, ebenso wie Lucy am folgenden Tag. Ich fand auf ihre unterschiedlichen Arten waren beide Karamanns deutlich als harte Kaufmänner erkennbar, doch sie hatten jeweils eine persönliche Note, die der Charakter der Spieler mitbrachte. Gleiches gilt für das Fräulein Slata (in welches sich Branko verliebt), für Branko und für den Bürgermeister, für die Wirtin, den Bäcker und die Gesellschafterin. Einzig die Gymnasiasten blieben außer als kleine arrogante Bösewichter etwas farblos zurück.
Wunderbar fand ich die musikalische Unterstützung live am Klavier, die so wenig aufdringlich und so passend wirkte. Dass Toni dann das Klavierspiel noch mit einem Geigenspiel (Slata auf dem Balkon mit Geige) unterstütze, war wirklich ausgesprochen schön. Die Spielerin tat in beiden Fällen nur so, als würde sie spielen. Beide Spielerinnen machten das jedoch sehr gut.
Trotz all meiner Kritik ziehe ich am Schluss das Fazit, dass ich mich diese Art der Umsetzung aus zeitlichen Gründen nicht getraut hätte – zu Unrecht, wie diese Inszenierung zeigte. Die Zeit hat für das wirklich sehr umfangreiche Programm ausgereicht. Dass nach allem, was man getan hat, noch immer nochmals und nochmals und nochmals einzelne Passagen perfektionieren kann, weiß jeder Regisseur nur zu gut. Und wo würden wir landen, wenn wir uns nicht mehr verbessern könnten? Auch ich – und sei es nur durch zuschauen – kann immer noch was lernen. Nächstes Projekt: Doppelbesetzung.